Schattenlord 7 - Das blaue Mal
Münder weitergegeben und tradiert worden war. Wenn unter diesen Erzählungen jemals ein winziges Körnchen Wahrheit begraben gewesen war, war es längst völlig zerstückelt und entstellt worden.
»Es ist gut«, sagte Zoe und bedeutete der Dienerin, den Tisch abzuräumen und andere Helferinnen für das täglich zwei Stunden dauernde Ritual der Körperpflege und der Kleiderwahl hereinzubitten.
Aramie gehorchte anstandslos. Sie eilte aus dem Zimmer. Bald darauf strömten Dienerinnen herein. Sie umringten Zoe, zupften ihr das Nachtkleid vom Leib, führten sie zum Massagetisch, bereiteten die Körpermaske vor und mischten die Ingredienzien für eine hautschonende Creme, die man ihr nach dem Peeling auftragen würde.
Seltsam, wie rasch sie sich daran gewöhnt hatte, die Dienerschaft nach ihrer Pfeife tanzen zu lassen. Es gab Zoe das Gefühl, doch noch ein klein wenig Einfluss auf ihre Lebensführung zu haben.
»Du bist unruhig«, konstatierte Lirla.
»Ein wenig.«
»Ich hörte, dass du viel im Palast unterwegs bist? Du wurdest in der Küche angetroffen, in der Schneiderei, bei den Schusterweibern. Selbst in der Nähe der Aussichtsplattformen wurdest du gesehen.«
»Warum sind die Aufgänge auf die Dachplateaus gesichert und für mich nicht zugänglich?«, fragte Zoe in der Hoffnung, vom eigentlichen Thema dieses Gesprächs ablenken zu können.
»Es gab eine Gesandte, die sich in die Tiefe stürzen wollte.« Lirla seufzte. »Was für ein Sinn für Theatralik! Sie hätte es doch viel einfacher haben können, indem sie sich ein Küchenmesser in den Magen rammte. Doch zurück zum eigentlichen Thema. Was treibt dich herum?«
»Ich fühle ... Unruhe«, gab Zoe zu. Lirla war zu intelligent und zu scharfsinnig, um der von ihr gelegten falschen Fährte zu folgen.
»Es hat mit der Maske zu tun.«
»Wie bitte?«
»Diese Unruhe geht mit der Maskenmagie einher. Viele frühere Gesandte spürten einen ähnlichen Wanderdrang wie du.«
»Und was hat er zu bedeuten?«
»Keine Ahnung.« Lirla zuckte die Achseln. »Selbst die Priester sind in dieser Beziehung ratlos. Sie vermuten, dass die Unruhe etwas mit Anpassung zu tun hat. Die Gesandte und die Maske müssen zu einer verbindlichen Klärung ihres Verhältnisses kommen.«
»So? Ich dachte bislang, dass unser Verhältnis das zwischen dem Herrn und einer Sklavin wäre.«
»Selbst da gibt es Nuancen. Wichtige Nuancen.« Lirla wirkte mit einem Mal geistesabwesend und nachdenklich.
»Was erwartet mich? Wird diese Unruhe noch schlimmer?«
»Kann sein, muss nicht sein. Die Maske wird dir genügend Ellbogenfreiheit geben, um deinem Wandertrieb zu folgen. »Lirla lächelte. »Allerdings nicht so viel, dass du den Oberpalast verlassen könntest. Gib dich bloß keinen Hoffnungen hin, Gesandte.«
Zoe nickte. Sie hatte es nicht anders erwartet.
»Auch kann es bei diesen Positionskämpfen bloß einen Sieger geben. Der Zauber der Sgàile ist so mächtig, dass ihm niemand beikommt.«
»Wie lange wird es dauern, bis wir beide uns ... vertragen?«
»Manche Regentin hat schon nach wenigen Wochen den ihr zustehenden Platz gefunden. Andere brauchten bis zu zweihundert Tage.«
»Mehr als ein halbes Jahr? Bis dahin bin ich längst tot!«
»Das ist in der Tat ein Problem.« Lirla presste die Lippen fest aufeinander. »Es ist ein unverzeihlicher Fehler passiert. Unsere Verbindungsfrau in der Stadt der goldenen Türme wird dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Und es wird bereits nach einer neuen potenziellen Gesandten Ausschau gehalten.«
Was für ein herzloses Biest! Ihr ist mein Schicksal völlig einerlei. Ich bin bloß ein namenloses Gesicht und stehe in einer langen Reihe an Regentinnen, die bedenkenlos geopfert werden. Zum Wohl der Priesterschaft. Zum Wohl eines Packs, das die Bewohner Dar Anuins manipuliert und selbst mit den Prinzipien des eigenen Glaubens nichts am Hut hat. Wie hieß noch mal der Nordgott? Godefrome? Er gilt als Wegweiser hin zu mehr Zufriedenheit. Er ist jenes Wesen, das den Gläubigen Demut und Barmherzigkeit näherbringen soll, während die Priester völlig abgehoben in ihren Kartausen leben und den ganzen Tag lang darüber nachdenken, wie sie den Bewohnern Dar Anuins eine noch gründlichere Gehirnwäsche verpassen können - wobei ich noch immer nicht durchschaut habe, was sie eigentlich Vorhaben.
Ihr Gesicht brannte. Die Maske gab zum Ausdruck, dass sie mit derartigen Gedanken nicht einverstanden war.
Oder?
Zoes Bestrafung fiel gering und beinahe
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