Schattenmacht
zehn Uhr vormittags. Ich habe mir schon Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, ich müsste einen Arzt kommen lassen.« Die Frau verstummte kurz. »Du wirst mir helfen müssen. Bist du Scott oder Jamie? Ihr seht euch so ähnlich.«
Jamie versuchte aufzustehen, aber dafür fehlte ihm noch die Kraft. Er kam sich vor, als hätte er eine Woche im Bett gelegen. »Wo bin ich?«
»In einem Motel«, sagte die Frau. »Wir sind noch in Reno, direkt neben dem Flughafen. Das hier ist das Bluebird Inn. Kennst du es?« Sie stellte die Einkaufstüten auf dem Tisch ab. Sie waren voller Lebensmittel. Ein paar Äpfel rollten heraus, und sie sammelte sie wieder ein. »Ich dachte, dass du hungrig sein würdest, und war einkaufen. Zum Glück lag ich mit meinem Timing genau richtig. Ich wollte nicht, dass du allein aufwachst.«
»Sie waren im Theater.« Jetzt erkannte Jamie, wer vor ihm stand. Es war die Frau mit dem Foto aus der letzten Vorstellung. Die, die freiwillig auf die Bühne gekommen war.
»Ja.« Die Frau nickte. »Genau genommen habe ich euch drei Mal gesehen. Ich war auch in der Vorstellung um halb acht. Und in der am Abend zuvor.«
»Wieso?«
»Weil ich wissen wollte, wie ihr es macht. Eure Vorstellung…«
Jamie zwang sich auf die Beine. Er war schwach, und in seinem Kopf pochte es, aber er wollte nicht länger im Zimmer dieser fremden Frau bleiben. Scott war verschwunden. Jemand hatte ihn entführt. Das war das Einzige, was jetzt wichtig war.
»Wohin willst du?«, fragte die Frau und stellte sich zwischen Jamie und die Tür.
»Ich muss Scott finden.«
»Ich weiß, wie du dich fühlst.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber du kannst nicht einfach losmarschieren. Dafür ist es zu spät.«
»Wie meinen Sie das?« Unbewusst hatte er die Hände zu Fäusten geballt. »Sie waren da. Wieso? Wussten Sie, was passieren würde? Gehören Sie zu denen?«
Jetzt war es die Frau, die wütend wurde. »Ich glaube, du vergisst, was passiert ist«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang noch freundlich, aber Jamie merkte, dass sie sich zur Ruhe zwingen musste. »Ich habe dich gerettet. Wenn ich nicht gewesen wäre, hätten sie dich auch gekriegt.«
Natürlich. Sie hatte das Auto gefahren. Jamie hatte sie zwar nicht gesehen, aber er hatte ihre Stimme gehört, und jetzt erkannte er sie wieder. »Wissen Sie, wo er ist?«, fragte er. »Oder wer die Typen waren?«
»Nein.«
»Ich muss nach ihm suchen.«
»Ich kann nachvollziehen, wie es dir im Moment geht, Jamie. Darf ich dich so nennen? Da du sagtest, dass du nach Scott suchen willst, ist meine Frage damit wohl beantwortet.« Jamie erwiderte nichts, und so fuhr sie fort. »Denk bitte eine Minute lang nach. Du willst deinen Bruder finden. Aber wo willst du mit der Suche anfangen?« Sie ging zum Tisch und hob einen kleinen silbernen Gegenstand hoch. Er sah aus wie eine Kugel, aber an einem Ende ragte eine Nadel heraus und am anderen ein schwarzes Federbüschel. »Weißt du, was das ist?«
Jamie erstarrte.
»Das habe ich aus deiner Schulter gezogen«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, was darin war, aber du hast elf Stunden geschlafen. Dein Bruder ist ebenfalls getroffen worden, und mittlerweile kann er überall sein. Du kannst ganz Reno nach ihm absuchen. Meinetwegen auch ganz Nevada. Aber du wirst ihn nicht finden.«
Sie hatte recht, das wusste Jamie. Aber es war ihm egal. Er konnte nicht hierbleiben, nicht ohne Scott. »Ich muss zu Onkel Don«, sagte er.
»Don…?« Die Frau blinzelte. »Du meinst Don White? Sein Name stand auf dem Plakat. Ist er euer Onkel?«
»Nein. Er ist niemand – aber er hat darauf bestanden, dass wir ihn Onkel Don nennen. Er wird sich fragen, wo wir stecken. Er war gestern Abend im Theater. Vielleicht kann er helfen.«
»Ich weiß nicht…«
»Es ist mir egal, was Sie denken.« Jamie holte tief Luft. »Wir wohnen in einem gemieteten Haus in Sparks. Marcie und er werden dort sein. Ich muss ihnen sagen, was passiert ist, und dann werden sie die Polizei holen.«
Die Frau dachte einen Moment lang nach. Dann nickte sie. »Ruf die beiden doch an.«
Auf dem Nachttisch stand ein Telefon. Jamie nahm den Hörer ab und wählte. Am anderen Ende gab es ein Freizeichen, aber es meldete sich niemand. Er ließ es ein Dutzend Mal klingeln, dann legte er auf.
»Wenn ihnen etwas an euch läge, hätten sie die Polizei schon verständigt«, sagte die Frau.
»Woher wollen Sie wissen, dass sie das nicht getan haben?«
Die Frau seufzte. »Da hast du recht. Ich habe heute noch
Weitere Kostenlose Bücher