Schattenmacht
gestrichenen Fensterläden und Verandas und Villen im spanischen Stil mit schmiedeeisernen Toren und weißem Stuck. Einige der Häuser waren mit Windspielen, Figuren und Blumentöpfen geschmückt. Andere waren ziemlich heruntergekommen. Das hing davon ab, wer darin wohnte – und in dieser Gegend wohnten alle möglichen Leute.
Nummer 402 in der Tenth Street lag am oberen Ende, nahe dem Casino. Es fiel sofort auf, denn es war das baufälligste Haus der Straße. Der Garten war von Unkraut überwuchert, und im hohen Gras lag ein umgekippter Grill. Die Veranda war komplett mit Fliegengaze eingefasst, die jedoch so löchrig war, als hätte sie jemand mit dem Messer bearbeitet. Die Farbe blätterte ab. Die Scharniere der Fenster rosteten. Die außen angebaute Klimaanlage schien sich mit letzter Kraft an die Wand zu klammern. Das Haus hatte zwei Stockwerke und eine angebaute Garage. In der Einfahrt stand ein Wohnmobil, das aussah, als wäre es schon eine Ewigkeit nicht mehr bewegt worden.
»Da ist es«, sagte Jamie.
»Das dachte ich mir.« Alicia hielt nicht vor dem Haus, sondern fuhr ein Stück weiter und parkte unter einer Akazie. »Hier ist Schatten«, sagte sie zur Erklärung.
Jamie nickte. »Danke.« Er wollte die Tür öffnen.
»Warte!« Alicia starrte ihn an. »Was machst du?«
»Ist schon gut. Ich wohne hier. Sie brauchen nicht mitzukommen.«
»Das geht nicht! Ich kann dich nicht einfach hierlassen. Ich muss mich davon überzeugen, dass du in Sicherheit bist.«
»Dann warten Sie im Auto…«
»Nein!« Alicia stellte den Motor ab. »Ich begleite dich!« Jamie wollte widersprechen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Du warst die ganze Nacht weg«, fuhr sie fort. »Vielleicht ist es nicht schlecht, wenn du jemanden hast, der erklärt, was passiert ist… der deine Geschichte bestätigt.«
Jamie dachte einen Moment darüber nach, dann nickte er. Sie stiegen aus und gingen am Nachbarhaus vorbei. Es gehörte einer Familie mit zwei Kindern – Mädchen, ungefähr zehn und zwölf Jahre alt. Jamie hatte sie oft auf dem Rasen spielen sehen, und jetzt standen ihre Fahrräder draußen neben der Schaukel. Jamie hatte jedoch nie mit ihnen gesprochen. Wahrscheinlich hatte man den Mädchen gesagt, dass sie sich von ihm und Scott fernhalten sollten. Niemand näherte sich je Nummer 402. Es war, als wollte die ganze Nachbarschaft nichts mit ihnen zu tun haben.
Er stieg die drei Betonstufen hoch und ging über die Veranda zur Vordertür. Jetzt war er froh, dass diese Frau bei ihm war. Don und Marcie konnten ihm zwar auf keinen Fall die Schuld für das geben, was am Abend passiert war, aber das Problem bei den beiden war, dass sie erst zuschlugen und dann Fragen stellten. Er war zwölf Stunden lang weg gewesen. Das reichte, um sich ein paar Ohrfeigen oder Prügel mit Dons Gürtel einzuhandeln. Und Marcie war genauso schlimm. Sie war kleiner und langsamer als Don, aber wenn sie getrunken hatte, war sie unberechenbar – und da sie fast immer trank, war es ratsam, ihr aus dem Weg zu gehen. Alicia würde Jamie wenigstens die Zeit verschaffen, alles zu erklären. Sie würden ihm nichts tun, solange sie da war.
Im letzten Augenblick blieb er stehen und drückte auf die Klingel. Ihm war plötzlich klar geworden, dass er nicht einfach ins Haus marschieren konnte, nicht mit einer fremden Frau im Schlepptau. Es war noch nicht Mittag, was bedeutete, dass Marcie wahrscheinlich noch nicht angezogen war. Er horchte nach einem Lebenszeichen, dem Klappen einer Tür oder Schritten auf der Treppe, aber es rührte sich nichts. Im Wohnzimmer lief wie üblich der Fernseher. Das hatte nichts zu bedeuten. Marcie stellte ihn morgens als Erstes an und ließ ihn den ganzen Tag laufen, sogar, wenn sie im selben Raum Radio hörte. Im Fernsehen kamen gerade Nachrichten. Jamie klingelte ein zweites Mal, aber auch diesmal öffnete niemand.
»Sie sind nicht da«, sagte er.
»Willst du auf sie warten?«
»Ja.« Jamie nickte. »Sie brauchen sich um mich keine Sorgen zu machen. Sie können mich hierlassen, wenn Sie wollen.«
»Nein. Ich gehe mit dir rein.«
Sie ließ sich nicht abwimmeln. Jamie zuckte die Schultern und öffnete die Tür. Er hatte gewusst, dass sie nicht abgeschlossen sein würde. Das war sie nie. Im Haus gab es nichts, wofür sich das Stehlen lohnte, und außerdem gehörten ihnen die Möbel ohnehin nicht. Don hatte das Haus über eine Agentur gemietet. Die Bewohner hielten sich vorübergehend in einem anderen Bundesstaat auf.
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