Schattenmacht
Jamie kannte nicht einmal ihre Namen, aber wer immer sie waren, an ihrem Haus schien ihnen nicht viel zu liegen. Die Teppiche waren abgetreten, die Tapeten hingen in Fetzen an den Wänden, und statt Lampen baumelten überall nackte Glühbirnen. Die beiden Jungen hatten Matratzen auf dem Boden in einem der oberen Zimmer. Daneben lag das Schlafzimmer von Don und Marcie, in dem nur ein durchhängendes Bett stand. In der Küche gab es einen Tisch und vier Stühle. Und das war so ziemlich alles. Wäre das Haus unbewohnt gewesen, hätte niemand den Unterschied bemerkt.
»… nur noch fünf Monate bis zur Wahl, aber nach aktuellen Umfragen liegt keiner der beiden Kandidaten deutlich vorn. Wer wird der neue Präsident der Vereinigten Staaten? Anscheinend müssen wir bis zum Wahltag warten, um das zu erfahren. Das war Ed Radway aus Phoenix, Arizona.«
Im Wohnzimmer saß niemand, der dem Fernsehsprecher zuhörte. Natürlich sprach er trotzdem weiter und schien Augenkontakt mit den zwei leeren Sesseln aufzunehmen.
»Hier wohnst du?« Alicia schaffte es nicht, ihre Betroffenheit zu verbergen.
»Es ist nur gemietet«, erklärte Jamie. Er schämte sich, obwohl es keinen Grund dafür gab. »Außerdem müssen Sie nicht bleiben«, fügte er hinzu.
»Hör mal! Versuchst du immer noch, mich loszuwerden?«
»Nein.«
Doch genau das tat er. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand hier sah. Er wollte sich selbst und anderen nicht eingestehen, dass er hier wohnte. Alicia sah ihn an, und Jamie wurde klar, dass er seit ihrer Abfahrt kaum ein Wort mit ihr gesprochen hatte – und wenn, dann war er unfreundlich zu ihr gewesen. Und doch stimmte es, was sie im Hotel gesagt hatte. Sie hatte ihn gerettet. Sie hatte ihr Leben riskiert, als die Männer auf sie schossen. Und er hatte ihr nicht einmal gedankt. »Tut mir leid«, sagte er.
»Schon gut.« Alicia sah sich um. »Du hast recht. Es sieht aus, als wäre niemand zu Hause«, stellte sie fest. »Was macht diese Frau – Marcie – beruflich?«
»Eigentlich nichts.«
»Wie bist du…«
Alicia konnte ihre Frage nicht beenden. Sie sahen es beide gleichzeitig. Auf dem Fernsehschirm war jetzt das Bild eines mageren Jungen mit langem schwarzem Haar und blasser Haut erschienen. Ungläubig und geschockt stellte Jamie fest, dass er im Fernsehen war.
»… gesucht, weil er unter dringendem Tatverdacht steht, seinen Vormund Don White ermordet zu haben«, sagte der Reporter.
Das Bild teilte sich. Jetzt standen Jamie und Scott nebeneinander. Man sah, dass sie Zwillinge waren, auch wenn sie sich auf dem Bildschirm nicht sehr ähnlich sahen.
»Scott und Jamie Tyler sind eineiige Zwillinge. Auch wenn sie erst vierzehn Jahre alt sind, sind sie bewaffnet und gefährlich. Wir bitten unsere Zuschauer, sich ihnen auf keinen Fall zu nähern.«
»Das ist verrückt…«, flüsterte Jamie.
»Psst!« Alicia starrte auf den Bildschirm.
Jetzt war das Theater zu sehen. Draußen standen bestimmt vier oder fünf Reporter, alle mit einem Mikrofon und eigenem Kameramann. Sie alle schrien nach Einzelheiten. Ihre Stimmen waren im Hintergrund zu hören, während eine Lokalreporterin – eine blonde, aufgeregt aussehende Frau – die Story erzählte.
»Scott und Jamie Tyler sind in diesem Theater in der Innenstadt von Reno aufgetreten«, berichtete sie. »Sie waren Teil einer sogenannten Gedankenleser-Nummer, bei der die Zuschauer mit primitiven Tricks hinters Licht geführt werden sollten. Zeugenaussagen zufolge sind beide Jungen schwer drogensüchtig. In der vergangenen Nacht haben sie offenbar die Kontrolle über sich verloren, ihrem Vormund Don White die Pistole entwendet und sie auf ihn gerichtet…«
»Das sind alles Lügen!«, brüllte Jamie. Er sah Alicia an, weil er plötzlich fürchtete, dass sie ihm nicht glauben würde. »Nichts von dem, was sie da sagt, ist wahr.«
»Jamie…«
»Er hatte überhaupt keine Pistole…«
»Jamie, hör mir zu – «
Doch in diesem Augenblick heulten draußen Sirenen auf, und das konnte nur eines bedeuten. Die Polizei war da.
Jamie hatte das Gefühl, dass das alles nur ein Albtraum war, schlimmer als der der vergangenen Nacht. Ihm passierte ein unglaubliches Ding nach dem anderen, und er rechnete fast damit, dass der graue Cowboy aus seinem Traum plötzlich auch noch hinter dem Sofa hochsprang. Er hörte Bremsen quietschen, Türen schlagen und kurz danach die quäkenden Stimmen aus den Funkgeräten. »Hier entlang!«, befahl jemand.
Es war Alicia, die das Kommando
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