Schattenmacht
hast?«
Jamie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.« »Dann lass mich eine Vermutung anstellen. Die Show, die ihr auf der Bühne gezeigt habt – das war gar keine Show, nicht wahr? Ihr könnt wirklich eure Gedanken lesen. Und ich schätze, was ich vorhin gesehen habe, war eine Art Gedankenkontrolle.«
Jamie hatte die Sprite ausgetrunken. Er hielt die Dose noch in der Hand, und plötzlich zerquetschte er sie. »Du hast es anscheinend nicht verstanden«, sagte er. »Ich rede nicht über diese Dinge. Mit niemandem. Außer mit Scott.« Er sah wütend zu ihr auf, als wollte er sie herausfordern, mit ihm zu diskutieren. »Du weißt überhaupt nicht, wie das ist. Du hast keine Ahnung. Und ich werde es dir auch nicht erzählen.«
»Ist gut. Entschuldige bitte.« Alicia trank etwas Bier direkt aus der Flasche. Sie dachte kurz nach. »Hör mal, ich weiß, dass die Situation nicht ganz einfach für dich ist. Es bringt uns allerdings auch nicht weiter, wenn wir uns streiten. Vielleicht hilft es, wenn ich dir meine Geschichte erzähle. Im Moment bin ich ja noch eine Fremde für dich. Aber ich war gestern Abend nicht zufällig in eurem Theater. Ich hatte einen Grund.«
»Es hat etwas mit dem Foto zu tun. Daniel…«
Alicia stellte ihr Bier ab. »Genau«, sagte sie. »Daniel. Um ihn geht es bei all dem.«
Sie beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf den Tisch.
»Der Junge auf dem Foto ist mein Sohn. Letzte Woche wäre sein Geburtstag gewesen. Er ist am 9. Juni elf geworden. Aber ich weiß nicht, wo er ist. Ich weiß nicht mal, ob er noch lebt. Er ist vor sieben Monaten verschwunden, und seitdem suche ich nach ihm.
Du brauchst nicht viel über mich zu wissen, Jamie. Ich bin zweiunddreißig. Ich habe eine Schwester. Meine Eltern stammen aus New Jersey. Vor einem Jahr habe ich in Washington gelebt und für einen Senator namens John Trelawny gearbeitet. Vielleicht hast du von ihm gehört. Zurzeit versucht er, der nächste Präsident der Vereinigten Staaten zu werden, und die Leute sagen, dass er gute Chancen hat, es zu schaffen. Ich habe fünf Jahre für ihn gearbeitet, seine Post sortiert, Termine für ihn gemacht… solche Dinge. Er ist ein sehr netter Mann, und ich mochte meinen Job.
Ich war auch eine Zeit lang verheiratet. Zwei Jahre nach Daniels Geburt wurde mein Mann krank und starb, und ich musste Danny allein großziehen. Aber in gewisser Weise hatte ich Glück. Ich hatte ein kleines Haus, die Schule lag gleich um die Ecke. Und meine Haushälterin Maria hat sich jeden Nachmittag um Danny gekümmert, bis ich nach Hause kam.«
Sie holte tief Luft.
»Und dann, Ende letzten Jahres – in der ersten Novemberwoche –, bekam ich einen Anruf von Maria. Es war etwa achtzehn Uhr, und ich war noch bei der Arbeit. Maria sagte, dass Danny nicht von der Schule nach Hause gekommen war. Sie hatte vergeblich versucht, ihn über sein Handy zu erreichen, und wusste nicht, was sie sonst noch tun konnte. Ich kann mich noch genau daran erinnern, dass ich sie gebeten habe, bei seinen Freunden nachzufragen und mich wieder anzurufen, wenn er um sieben immer noch nicht da war. Heute kann ich nicht begreifen, wie ruhig ich damals geblieben bin. Aber Danny ist öfters nach der Schule zu einem Freund gegangen. Er war in einer Band und hat Schlagzeug gespielt. Und er steckte mitten in den Proben für eine Weihnachtsaufführung. Mir ist nie in den Sinn gekommen, dass etwas passiert sein könnte.
Um sieben hat sich Maria dann noch einmal gemeldet. Danny war immer noch nicht da, und niemand hatte eine Ahnung, wo er sein konnte. Es war natürlich schon dunkel, und da begann ich mir Sorgen zu machen. Ich habe die Polizei angerufen, wobei meine Verbindung zu Senator Trelawny von großem Nutzen war. Die Beamten waren schätzungsweise nach zehn Sekunden da und haben Danny sofort in die Liste der vermissten Personen aufgenommen. Außerdem haben sie sein Bild an alle Geschäfte der Umgebung verteilt und so gewissermaßen ein Netzwerk von Leuten aufgebaut, die nach ihm Ausschau hielten. Ich habe immer noch gedacht, dass er wieder auftauchen würde. Ich konnte mich sogar schon hören, wie ich mit ihm schimpfte, weil er so spät kam!«
Sie verstummte und schwieg eine lange Zeit.
»Er ist nie wieder aufgetaucht«, fuhr sie fort. »Niemand hatte etwas gesehen. Niemand wusste etwas. Es war, als hätte er sich in Luft aufgelöst. Ich habe das ganze Haus nach einem Hinweis abgesucht, wohin er gegangen sein könnte. Ich fuhr an all die
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