Schattenmacht
ich die Gedanken von einem von ihnen lese, werde ich alles Schlechte sehen, das sie jemals getan haben. Ich werde ein Teil davon werden. Die Leute, die sie ermordet haben. Die Kinder, denen sie wehgetan haben. Einfach alles! Es ist dasselbe wie ein Kopfsprung in eine Jauchegrube, und wenn ich Pech habe, finde ich trotzdem nicht heraus, wo sie Scott hingebracht haben.«
»Dann müssen wir einen anderen Weg finden«, sagte Alicia.
»Nein.« Jamie schüttelte bedrückt den Kopf. »Es gibt keinen anderen Weg. Was sollen wir denn sonst machen? Wir müssen Colton Banes finden und ihm folgen, wohin er auch geht.«
»Das kann Wochen dauern. Die Zeit haben wir nicht.« Jamie wirkte erschöpft. Er hatte noch nie so viel gesprochen. »Ich werde Nightrise morgen früh einen kleinen Besuch abstatten. Ich werde Banes finden und ihn fragen, wo Scott ist.« Jamie lächelte grimmig. »Und auch wenn er den Mund nicht aufmacht, wird er mir sagen, was ich wissen will.«
IM KOPF DES KILLERS
»Ich wünschte, ich hätte dich nicht dazu überredet«, sagte Alicia. »Ich werde noch verrückt vor Angst um dich.«
Jamie zuckte die Schultern. »Keine Panik. Ich kann schon ganz gut auf mich selbst aufpassen.«
»Mir gefällt der Gedanke nicht, dass du allein da reingehst.«
»Es ist helllichter Tag. Wir sind in Los Angeles. Es wird nichts passieren.«
Durch die Windschutzscheibe betrachtete Jamie das Bürogebäude auf der anderen Straßenseite. Im Morgenlicht sah es ganz normal aus. Die Sonne wurde von den Fensterscheiben reflektiert. Es waren kaum noch Menschen unterwegs; die meisten saßen längst an ihren Schreibtischen. Der Verkehr hatte nachgelassen, und die Bürgersteige waren praktisch leer. Jamie hatte schon festgestellt, dass in Los Angeles fast niemand zu Fuß ging.
Und doch waren mindestens tausend Leute in dem Gebäude. Jamie versuchte sich vorzustellen, wie es sein musste, im zwanzigsten Stockwerk eines Hochhauses ein eigenes Büro zu haben, mit einer Sekretärin und einem Gehaltsscheck am Ende des Monats. Ein ganz normales Leben. Eine Zeit lang war das sein Traum gewesen, alles was er sich gewünscht hatte. Einen Job zu haben. Urlaub. Eine Beförderung. Er hatte die Bürogebäude in Reno immer mit einem gewissen Neid betrachtet. Aber da er kaum lesen und schreiben konnte, würde ein solches Leben für ihn immer unerreichbar bleiben.
Einmal hatte er so etwas zu Scott gesagt, aber der hatte ihn nur ausgelacht.
»Ich will nicht in einem von diesen Hochhäusern arbeiten, Jamie. Da geht man jung rein und kommt alt wieder raus. Und man merkt nicht einmal, was in der Zwischenzeit passiert ist.«
»Ich dachte, du wolltest wie Bill Gates werden.«
»Stimmt. Ich will nur nicht für jemand anderen arbeiten.«
Scott? Wo war er jetzt? Auf der Suche nach einem Hinweis schickte Jamie seine Gedanken durch das Gebäude mit der eintönigen Fensterfront, doch er spürte nichts.
Er öffnete die Wagentür, und die warme Luft drohte ihn fast zu erdrücken. »Mach dir keine Sorgen um mich«, sagte er. »Ich kriege das schon hin.«
»Am liebsten würde ich mit dir gehen«, entgegnete Alicia.
»Aber dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass uns jemand aufhält, doppelt so groß.« Jamie stieg aus, drehte sich um und beugte sich noch einmal in den Wagen. »Gib mir zehn Minuten. Dann ruf an.«
»Aber sieh zu, dass du auch wirklich da bist, Jamie. Das Timing muss perfekt sein.«
Er tippte auf sein Handgelenk. Dort trug er die billige Uhr, die Scott ihm zum dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. »Keine Sorge, ich bin da.«
Er nahm einen dicken Umschlag vom Armaturenbrett, sah Alicia ein letztes Mal an und schlug die Wagentür zu.
Als er die Straße überquerte, war er plötzlich nervös. Die Drehtüren vor ihm wirkten wie eine Falle. Wenn sie sich drehten, würden sie ihn verschlucken. Wie konnte er so sicher sein, dass sie ihn wieder hinausgehen ließen? Was tat er hier überhaupt? Er wusste praktisch nichts über Nightrise, aber der Name allein ließ ihn schaudern. Die Firma beschäftigte einen Mann namens Colton Banes, und Banes war dabei gewesen, als Scott entführt worden war. Sie suchten nach Kindern wie ihm. Und jetzt wollte er dort hineinmarschieren und sich ihnen ausliefern?
Es ist helllichter Tag. Wir sind in Los Angeles. Es wird nichts passieren.
Und warum nicht? Wer wusste schon, was in den Straßen vorging oder auch nur im Gebäude nebenan? Jamie erkannte plötzlich, dass auch der hellste Sonnenschein viele dunkle und
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