Schattenmacht
Fotokopierraum. Er war kräftig, hatte einen Bart und trug einen Anzug. Außerdem hatte er ein Funkgerät in der Hand. Er musste ein Wachmann sein – und er war misstrauisch.
Das Telefon klingelte. Jamie konnte es hören. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Banes den Hörer abnahm.
»Wer bist du?«, fragte der Wachmann noch einmal. »Hallo?«, hörte Jamie Banes ins Telefon sagen, und er wusste, dass er es in dessen Büro schaffen musste. Ihm blieben nur noch Sekunden.
Draußen vor dem Gebäude saß Alicia in ihrem Auto und fragte am Telefon: »Sind Sie Colton Banes?« Die Empfangsdame hatte das Gespräch durchgestellt.
»Ja.« Banes war verblüfft. Er kannte die Stimme nicht. Wieso rief diese Frau ihn an?
Der Wachmann wartete immer noch auf eine Antwort von Jamie. Als er keine bekam, trat er einen Schritt auf ihn zu. »Ich denke, du kommst mit mir«, sagte er.
»Ich gehöre zu ihm.« Jamie deutete mit dem Daumen auf die Bürotür. Natürlich war ihm klar, wie fadenscheinig sich das anhörte, aber ihm war nichts Besseres eingefallen. Er betrat das Büro und schloss die Tür hinter sich.
Alicia, die mit ihrem Handy telefonierte, wusste, dass der richtige Moment gekommen war. »Wo ist Scott Tyler?«, fragte sie. Banes schaute auf, sah einen mageren Jungen in einem leuchtend bunten Hemd und mit einer Baseballkappe in seinem Büro und wusste, dass er hereingelegt worden war. Die Frau am Telefon hatte ihm eine Frage gestellt, und auch wenn er nicht die Absicht hatte, sie zu beantworten, konnte er nicht vermeiden, die Antwort zu denken.
Deswegen war Jamie hier. Das war es, was er und Alicia vereinbart hatten. Sie hatte in den Gedanken des Mannes ein Fenster für ihn geöffnet.
Jamie sprang hindurch.
Er tat genau das, was er auf der Bühne schon tausend Mal gemacht hatte. Nur diesmal war es nicht Scott, in den er hineinsprang. Diesmal war es nicht sein Bruder mit seinen angenehmen und vertrauten Gedanken.
Es war Colton Banes.
Jamie stürzte in absolute Dunkelheit. Es kam ihm vor, als wäre er in eine Pfütze aus gefrorenem Öl gesprungen. Und in diesem Augenblick teilte er mit Banes alles, was dieser je gefühlt oder gedacht hatte. Da waren Bilder – Millionen Bilder –, aber auch Erfahrungen und Empfindungen: Angst, Arroganz, Begierde, Wut, Grausamkeit, Hass und noch vieles andere. Jamie hatte versucht, es Alicia zu erklären, aber er wäre nie in der Lage gewesen, die richtigen Worte zu finden. Das Gehirn eines Mannes ist eine eigene Welt. Das hätte er ihr sagen sollen. Und die Welt, in der er sich jetzt befand, war jenseits aller Vorstellungskraft. Er sah den Tod von Kyle Hovey. Und was noch schlimmer war, es waren seine Hände, die sich um den Hals des Mannes krallten. Er spürte das warme Fleisch und das Pulsieren der Halsschlagader, als er zudrückte. Das war der letzte Mord, und er lag in Banes’ Erinnerung ganz oben. Er sah eine Frau, die ihn beobachtete. Sie hatte sehr kurze graue Haare, einen langen Hals und trug eine Brille. Banes hatte Angst vor ihr. Jamie spürte seine Angst. Er sah die Grausamkeit in ihren Augen, und einen Moment lang sah sie ihn direkt an und lächelte, während er einen Mord beging.
Dann verschwand das Bild, und Jamie war in einem Wohnwagen. Auf dem Bett lag ein junges Mädchen mit einem benommenen Gesichtsausdruck und mit langen Haaren, die sich über das Kissen ausbreiteten. Sie bewegte ihren Arm, und Jamie konnte sehen, dass sie überall Prellungen hatte sowie Stichwunden, von denen einige schon verschorft waren. Überall lagen Kleidungsstücke herum, zerdrückte Bierdosen und übervolle Aschenbecher, an der Wand ein Kalender mit nackten Frauen.
Colton Banes’ Zuhause. Es war da, dann war es wieder weg. Jamie hatte es nur eine Sekunde lang gesehen, aber für ihn fühlte es sich an, als wäre eine Stunde oder sogar ein ganzer Tag vergangen.
Und dann sah er andere Morde, eine Waffe, die vor seinem Körper unablässig feuerte, eine ganze Reihe Menschen, junge und alte, die niedergemetzelt wurden wie auf einem Schießstand.
Einige starben lautlos. Andere bettelten um Gnade. Jamie hörte sie und sah sie fallen. Überwiegend Männer. Ein paar Frauen.
Die Kugeln ratterten aus der Waffe, und Blut spritzte an ein Dutzend verschiedene Wände.
Und dann kam Don White.
» Wen hat er denn umgelegt?
Das hätten Sie lieber nicht fragen sollen. «
Jamie hörte die Worte und sah Dons Körper zurückschnellen,
als ihn die Kugel traf. Dann war
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