Schattenmacht
Marcie an der Reihe. Sie war in der Küche überrascht worden. Sie hatte nicht einmal gehört, wie die Tür aufging. Sie hatte sich nur umgedreht, und das war es.
So viele Tote. Ein Gruselkabinett.
Er sah sich selbst, wie er aus dem Theater gejagt wurde. Den Hund – Jagger – zu Boden gerungen. Und den Mann, der Präsident werden wollte, Charles Baker. Das war doch verrückt. Was hatte der in Banes’ Kopf zu suchen? Aber er war es eindeutig. Er hob eine Hand, lächelte und sagte etwas zu einem Reporter.
Ein weiteres Aufflackern, hundert verschiedene Orte, die vorbeisausten wie ein fallendes Kartenspiel. Er war in einer Stadt, vielleicht irgendwo in China. Ein merkwürdiges Boot mit zerknitterten Segeln fuhr über ein Gewässer. Weg war es. Jetzt war er wieder in Los Angeles und sah sich selbst, als er das Büro betrat. Er spürte den Augenblick, in dem er erkannt worden war, sein eigener Name wurde in einer Mischung aus Überraschung und Ärger geflüstert. Jamie kämpfte gegen die Flut von Worten, Bildern und Gefühlen an und suchte nach der einen Information, die er brauchte.
» Wo ist Scott Tyler? «
Alicia hatte diese Frage gestellt, und die Antwort musste da sein, musste wie ein Querschläger durch Banes Kopf kreuzen. Jamie wusste nicht, wie lange er es dort noch aushalten konnte. Ihm war übel. Er hatte das Gefühl zu ertrinken.
Und dann sah er ihn. Seinen Bruder. Scott.
Er lag mit nacktem Oberkörper in einem geschlossenen Raum. Er war krank. Ein Schlauch führte in seine Nase, einer von denen, wie man sie im Krankenhaus bekommt, ein anderer zu seinem Handgelenk. Eine durchsichtige Flüssigkeit tropfte in den Schlauch. Scott war schweißnass. In einem Mundwinkel klebte getrocknetes Blut. Seine Augen waren offen und voller Schmerz. Jamie hätte zu gern gewusst, was er dachte, aber das war unmöglich. Er sah ihn so, wie Banes ihn gesehen hatte. Wann? Nicht gestern. Vielleicht vorgestern. Jedenfalls erst vor Kurzem.
» Wo ist Scott Tyler? «
Banes wollte nicht, dass es jemand erfuhr. Er kämpfte dagegen an. Trotzdem kamen die Bilder, eines nach dem anderen. Jamie sah Wüste. Einen Kaktus, geformt wie ein Y. Er sah Berge und den Mond, der unheimlich über zwei Gipfeln hing. Es gab ein lautes elektronisches Summen, als ein automatisches Tor aufging, und ein lautes Krachen, als ein anderes zuschlug. Gesichter. Andere Jungen, einige im selben Alter wie Scott, aber alle mit leerem Blick. Eine Überwachungskamera, die sich drehte. Duschen, aus denen Dampfwolken quollen. Noch mehr Jungen, deren Umrisse hinter dem Plastikvorhang nur zu erahnen waren. Ein weiteres Tor krachte zu. Und da war es endlich, das Schild, das Banes ihn nicht sehen lassen wollte.
SILENT CREEK.
Als Jamie es gesehen hatte, begann er, sich aus Banes Kopf zurückzuziehen. Er konnte dort nicht länger bleiben, umgeben von so viel Gift und Schmerz. Der Rückzug fühlte sich an, als flöge er aufwärts durch einen langen Tunnel. Weitere Bilder sausten vorbei, aber so schnell, dass er sie nicht erkennen konnte.
Und dann war er wieder da, wo er angefangen hatte, im Büro von Banes, der ihn von seinem Schreibtischstuhl aus mit offenem Mund anstarrte.
Ein paar Augenblicke lang bewegte sich keiner von ihnen. Jamie hätte es nicht gekonnt, selbst wenn er gewollt hätte. Er war geistig vollkommen erschöpft. Dann grinste Banes. »Jamie«, murmelte er.
Jamie konnte nur zusehen, als Banes in seinen Schreibtisch griff und eine Waffe herausholte. Es war die Betäubungspistole, die er auch schon auf Scott gerichtet hatte. Der Mann schien zu merken, dass Jamie hilflos war, denn er ließ sich Zeit. Er stand nicht einmal auf, sondern zielte im Sitzen auf ihn.
Doch dann wurde die Tür aufgestoßen, und der Wachmann stürmte herein.
»Entschuldigen Sie, Sir…«, begann er und blieb überrascht stehen. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, einen leitenden Angestellten von Nightrise dabei zu überraschen, wie er eine Waffe auf ein Kind richtete.
Jamie sah seinen Gesichtsausdruck und kam zu dem Schluss, dass der Mann zwar hier arbeitete, aber anscheinend keine Ahnung hatte, was hinter den geschlossenen Bürotüren vorging. Was würde er tun? Jamie beschloss, nicht darauf zu warten. Er griff hinter sich, packte den Mann und stieß ihn zwischen sich und Banes. Es war genau der Moment, in dem Banes abdrückte. Der Betäubungspfeil bohrte sich in den Arm des Wachmanns. Er schrie vor Schmerz auf. Jamie ließ ihn los und rannte hinaus. Er hörte
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