Schattenmacht
Konferenzraum mit einem Tisch, auf dem sich Notizblöcke, Stifte, Computer, Ausdrucke, Akten, Tabletts mit belegten Broten und Mineralwasserflaschen türmten. Am Tisch saß rund ein Dutzend Leute, die aussahen, als hätten sie in den letzten Tagen zu wenig Schlaf bekommen. Sie redeten miteinander und schienen über irgendeine Grafik zu debattieren, aber als Alicia eintrat, stand einer von ihnen auf, und Jamie stellte schockiert fest, dass es der Mann war, dessen Bild in ganz Los Angeles hing.
John Trelawny sah nicht wie ein Politiker aus. Das war Jamies erster Gedanke. Er sah gut aus, war größer, als es auf den Bildern den Anschein erweckte, und auch jünger, vielleicht Ende vierzig. Seine ehemals blonden Haare waren ausgeblichen und gingen langsam ins Hellgrau über. Trotzdem wirkte er fit und gesund. Er trug eine Cordhose, einen locker sitzenden blauen Pullover und Turnschuhe. Er war offensichtlich müde, aber seine hellbraunen Augen waren voller Leben.
»Alicia, meine Liebe. Was für eine Überraschung! Wie geht es Ihnen?« Er umarmte sie. »Gibt es Neuigkeiten von Daniel?«
»Ja, Senator, die gibt es. Das ist der Grund, warum ich hier bin.« Sie drehte sich um und stellte Jamie vor. »Das ist Jamie.« Diesmal benutzte sie seinen richtigen Namen.
Trelawny schüttelte ihm die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen.«
»Sir…« Jamie konnte kaum fassen, dass er womöglich dem nächsten Präsidenten der Vereinigten Staaten die Hand gab.
»Es tut mir wirklich leid, hier einfach so hereinzuplatzen«, fuhr Alicia fort. »Ich weiß, wie viel Sie zu tun haben und wie wichtig diese Zeit für Sie ist. Aber ich muss Sie dringend sprechen.«
»Haben Sie Ihren Jungen gefunden?«
»Ich glaube, das habe ich. Allerdings komme ich nicht an ihn heran.«
»Senator?« Eine der Frauen am Tisch hielt ein Mobiltelefon hoch. »Der Bürgermeister von Auburn ist am Telefon. Er braucht Einzelheiten zu dem Festumzug anlässlich Ihres Geburtstags.«
Trelawny sah sie ein wenig verdutzt an. »Jetzt nicht, Beth«, sagte er. »Richten Sie ihm bitte aus, dass ich zurückrufe.« Er wandte sich wieder Alicia zu. »Leider kann ich nicht viel Zeit erübrigen«, entschuldigte er sich. »Wir haben unheimlich viel zu tun. Aber eine Pause tut mir ganz gut. Und meinen Mitarbeitern ebenso. Alle mal herhören!«, rief er. »Gehen Sie nach draußen, um frische Luft zu schnappen, essen Sie etwas, oder tun Sie sonst irgendwas, das Sie an ein normales Leben erinnert. Wir sehen uns in zehn Minuten.« Zu Alicia sagte er: »Warum gehen wir nicht nach nebenan, wo wir ungestört sind?«
Alicia warf Jamie einen Blick zu. Er nickte. Der Senator und seine frühere Assistentin verschwanden im Nebenzimmer und schlossen die Tür. Keiner der Wahlkämpfer verließ seinen Platz am Tisch. Sie arbeiteten weiter wie vorher. Der Mann mit dem irischen Akzent, Patrick, kam zu Jamie. »Möchtest du etwas trinken, junger Mann?«
»Haben Sie Cola?«
»Klar. Setz dich da auf die Couch, und fühl dich wie zu Hause.«
Jamie tat, was ihm gesagt wurde, und war froh, niemandem im Weg zu sein. In einer Ecke stand ein Plasma-Fernseher, aber der Ton war ausgeschaltet, und außerdem liefen sowieso nur Nachrichten. Patrick kam mit der Cola, und während Jamie sie langsam trank, fragte er sich, wie lange Alicia wohl noch brauchen würde. Trelawny hatte zwar von zehn Minuten gesprochen, aber die waren bestimmt längst um.
Endlich ging die Tür wieder auf, und Trelawny erschien. »Michael«, sagte er zu einem der Männer im Raum. »Bringen Sie mir bitte die Nightrise -Akte.« Dann sah er Jamie an. »Ich würde dich gern sprechen.«
Jamie stand auf und ging zu ihm. Er spürte die neugierigen Blicke der Wahlkampfmitarbeiter. Sie feilten an einer wichtigen Rede. Wer war dieser Teenager, der ihrem Boss die Zeit stahl? Der Mitarbeiter namens Michael hatte eine dicke Akte geholt und reichte sie Trelawny, der dankend nickte. Jamie folgte Trelawny ins Nebenzimmer und schloss die Tür hinter sich.
Alicia saß auf einer Couch, doch Jamie wurde zu einem Stuhl geführt, als wollte der Senator sie getrennt halten. Trelawny legte die Akte auf den Tisch.
»Alicia hat mir gerade die verrückteste Geschichte erzählt, die ich jemals gehört habe«, begann er. »Wenn ich sie nicht so gut kennen würde, hätte ich sie bereits gebeten zu gehen. Ehrlich gesagt, frage ich mich auch jetzt noch, ob ihre Fantasie möglicherweise mit ihr durchgegangen ist. Das sage ich nicht, um sie zu beleidigen. Aber
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