Schattenmacht
herunterhängenden Kabeln. Der Geruch von Benzin hing in der Luft. Die Professorin trat auf die Bremse, doch Richard war schon aus dem Wagen gesprungen und rannte los. Er hatte einen Jungen gesehen, der mit dem Rücken an das Wrack gelehnt dasaß und beide Beine ausgestreckt hatte. Das eine war unnatürlich verdreht.
Es war Pedro.
»Was ist passiert? Wo ist Matt?« Richard schrie die Fragen heraus, ohne daran zu denken, dass Pedro kein Wort Englisch sprach. Pedro sah ihn verständnislos an, und sofort schämte Richard sich für sein Benehmen. Er machte sich solche Sorgen um Matt, dass er keinen Gedanken daran verschwendet hatte, in welchem Zustand sich der andere Junge befand. Er ging in die Hocke und legte eine Hand auf Pedros Schulter. »Bist du okay?«, fragte er.
Einen Moment später kam auch Professorin Chambers, die daran gedacht hatte, eine Flasche Wasser für Pedro mitzubringen. » Cómo estás? « , fragte sie. »Wie geht es dir?«
Hastig erzählte Pedro, was passiert war. Der Hubschrauber war von einer Kugel getroffen worden. Der Pilot hatte die Kontrolle verloren, und sie waren abgestürzt. Richard schaute ins Cockpit und entdeckte den jungen Piloten – Atoc. Er war immer noch angeschnallt, und seine Hände lagen auf den Kontrollhebeln. Er war eindeutig tot. Pedro sprach immer noch. Er hatte sich das Bein gebrochen und konnte sich nicht bewegen. Matt war allein losgegangen, um Salamanda zu finden. »Sie müssen mich hierlassen«, sagte er auf Spanisch. »Sie müssen Matteo finden. Das Tor hat sich geöffnet. Ich habe gesehen…«
Er verstummte.
»Was hast du gesehen?«, fragte die Professorin.
»Ich kann nicht darüber reden. Suchen Sie Matteo.«
Richard hatte einigermaßen verstanden, was Pedro sagte. Er berührte Professorin Chambers am Arm. »Bleiben Sie hier«, sagte er. »Ich gehe Matt suchen.«
Die Professorin nickte. Pedro zeigte ihm die Richtung. » Alla… « Da drüben.
Richard entschied sich dagegen, den Jeep zu nehmen. Er hatte Angst, Matt zu übersehen, wenn er zu schnell fuhr. Er war sicher, dass er nicht weit vom Hubschrauber entfernt sein konnte, aber er brauchte zwanzig Minuten, um ihn zu finden, und als er bei ihm ankam, sah es aus, als wäre er zu spät gekommen. Matt lag leblos auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Der Junge hatte Blut geweint. Sein Gesicht war leichenblass.
Er war tot. Er konnte nur tot sein. Er schien nicht zu atmen, denn seine Brust bewegte sich nicht. Richard musste gegen die Tränen ankämpfen… nicht nur Tränen der Trauer, sondern auch der Wut. So etwas Sinnloses! Waren sie deswegen extra von Großbritannien hergekommen? Das Tor war offen. Pedro war verletzt. Und Matt tot. Einen kurzen Moment fragte er sich, was aus Salamanda geworden war. Die Überreste seines mobilen Labors waren in einiger Entfernung zu sehen, aber er selbst war wie vom Erdboden verschluckt. War er für das alles verantwortlich? Richard betrachtete Matt genau, konnte aber keine äußeren Verletzungen feststellen. Er war nicht erschossen worden. Es schien eher, als wäre das Leben irgendwie aus ihm herausgesaugt worden.
Richard nahm eines von Matts Handgelenken in beide Hände. Matts Arm war eiskalt. Doch dann fühlte Richard etwas – ganz schwach und unregelmäßig – Matts Puls. Richard fragte sich, ob er sich das nur einbildete, und legte seine Finger hastig an Matts Hals. Auch hier war ein Puls zu fühlen. Und obwohl es kaum zu sehen war, atmete Matt noch.
Er brauchte Hilfe. Er musste ins Krankenhaus – und zwar so schnell wie möglich.
Richard sprang auf und rannte los, um den Jeep zu holen.
Hongkong
Der Vorsitzende stand in seinem Büro im sechsundsechzigsten Stockwerk von The Nail, nicht weit von dem Konferenzraum entfernt, von dem aus er regelmäßig mit den Geschäftsführern der anderen Niederlassungen sprach. Er beobachtete die Boote im Hafen und hatte ein Glas des teuersten Cognacs der Welt in der Hand. Die Flasche hatte fünftausend Dollar gekostet. Wie viel von der goldfarbenen Flüssigkeit hatte er gerade in seinem Schwenker? Für ihn war es ein merkwürdiger und zugleich sehr befriedigender Gedanke, dass es draußen – in Kaulun – Menschen gab, die sich kaum die Grundnahrungsmittel leisten konnten, Frauen und Kinder, die den ganzen Tag und die halbe Nacht für ein paar Cent in Fabriken schufteten, nur um zu überleben, während er diesen exquisiten Branntwein à zweihundert Dollar pro Schluck genießen konnte. Genau so muss die Welt sein, dachte er.
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