Schattenmacht
Du hast einen Zwillingsbruder.«
Jamie fuhr sich mit der Hand durchs nasse Haar. »Das stimmt«, bestätigte er. »Mein Name ist Jamie Tyler.«
Joe Feather nickte. »Hier war ein Scott Tyler. Er war im Block… auf der anderen Seite der Mauer. Aber ich war nicht hier, als er ankam. Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Sie lügen! Sie wussten von der Tätowierung. Er hat dieselbe!«
»Es gibt so vieles, das ich dir erklären muss. Aber nicht jetzt. Nicht hier. Ich habe Freunde, die schon unterwegs sind, um dir zu helfen. Heute Nacht, wenn es dunkel ist, wirst du verschwinden…«
»Ich gehe nicht ohne Scott!«
Jamie war laut geworden, und der Aufseher sah hektisch zur Tür, aus Angst, dass ihn jemand gehört hatte. »Dein Bruder ist vor ein paar Wochen hergebracht worden«, flüsterte er hastig. »Ich darf nicht in den Block. Aber manchmal höre ich die anderen reden und kenne die Namen. Er war hier, aber er ist wieder weg. Sie haben ihn weggebracht.«
»Wann?«
»Drei Tage vor deiner Ankunft.«
»Wohin haben sie ihn gebracht?«
Joe Feather sah auf den Boden. »Ich weiß es nicht. Sie haben es mir nicht erzählt. Ich weiß nur, dass er weg ist.«
Das waren schlimme Neuigkeiten für Jamie. Er hätte es fast geschafft! Scott war hier gewesen! Wäre er nur ein paar Tage früher gekommen, wäre vielleicht alles ganz anders gelaufen. Aber sein Bruder war schon wieder weg. Nightrise konnte ihn an jeden Ort der Welt gebracht haben. Seine Suche fing wieder von vorn an.
»Wenn du deinen Bruder finden willst, musst du hier raus«, drängte Feather. »Du musst tun, was ich sage. Wenn du hierbleibst, gibt es keine Hoffnung.«
»Warten Sie…« Jamie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Das alles ging ihm entschieden zu schnell. »Erzählen Sie mir vom Block«, sagte er. »So nennen Sie doch den Zellentrakt auf der anderen Seite der Mauer, oder? Wofür ist er? Wie viele Kinder sind da eingesperrt? Was geht da drüben vor?«
»Bitte…« Feather wurde immer nervöser, aber er erkannte, dass Jamie nicht nachgeben würde. »Hör mir zu«, flüsterte er. »Ich arbeite hier erst ein paar Monate. Ich weiß nicht, was da drüben vorgeht. Es gibt die Jungen im Hauptgefängnis und die auf der anderen Seite der Mauer. Und dort gibt es etwas, das sie das PSI-Projekt nennen, aber ich weiß nicht, was das ist. Wie gesagt, ich arbeite nicht im Block und darf mich dort auch nicht aufhalten, aber manchmal sehe ich etwas oder kann einen Blick auf Namenslisten werfen. Und ich höre die anderen Aufseher reden. Für mich war es nur ein Job – bis ich dich gesehen habe. Da wusste ich, dass ich etwas unternehmen musste…«
»Wieso?«
»Wegen der Tätowierung!« Feather konnte die Anspannung nicht länger ertragen. Er ging zur Tür und sah hinaus. Es war niemand auf dem Flur. Die anderen Einzelzellen waren leer. Sie waren allein. »Ich werde dir alles erklären«, versprach Feather. »Aber erst, wenn wir weit weg von hier sind.«
»Einverstanden«, sagte Jamie, der eingesehen hatte, dass es sinnlos war, weitere Fragen zu stellen. Und er hatte nicht vor, noch länger in Silent Creek zu bleiben, nachdem er jetzt wusste, dass Scott nicht mehr dort war. »Etwas gibt es aber noch«, fügte er hinzu. »Es muss hier einen Jungen geben, der Daniel McGuire heißt.«
»McGuire…« Feather nickte. »Ja, den Namen habe ich gesehen.«
»Ist er im Block?«
»Ja.«
»Er kommt mit mir.« Feather öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber Jamie ließ ihm keine Gelegenheit dazu. »Ich bin nur hier, weil seine Mutter mir geholfen hat. Ich habe es ihr versprochen. Ich kann ihn nicht zurücklassen.«
»Aber es gibt keinen Weg in den Block. Überall sind Kameras und Wachleute…«
»Sie können mir doch helfen. Sie müssen mir helfen!«
Der Aufseher biss die Zähne zusammen, doch dann nickte er. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Jetzt haben wir allerdings keine Zeit mehr zum Reden. Mr Koring wird bald kommen. Ich hole dich, wenn es dunkel wird. Dann besprechen wir alles Weitere.«
»Ohne Daniel gehe ich nicht.«
»Ich tue, was ich kann.«
Mit diesen Worten verschwand er und ließ den vollkommen verwirrten Jamie zurück. Er hörte ein leises Klicken und begriff, dass Feather die Klimaanlage wieder abgeschaltet hatte. Das machte Sinn. Wenn Max Koring kam, musste er sehen, dass Jamie immer noch litt. Die Hitze kam zurück wie eine zu warme Decke, die ihn zu ersticken drohte. Aber er hatte fast eine ganze Flasche Wasser getrunken, und die
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