Schattenmacht
er aussieht.«
»Das ist nicht nötig. Er kam mir schon von Anfang an bekannt vor. Er hat zwar kurze Haare und trägt eine dicke Brille, aber ich habe sofort gewusst, wer er ist.«
»Jamie Tyler?«
»Ohne Zweifel. Ich habe mit dem Beamten in der Aufnahme gesprochen. Der Junge hat dieselbe Tätowierung auf der Schulter. Eine Art Spirale, die durchgestrichen ist. Es ist ganz sicher der Zwilling.«
Colton Banes lächelte. Erst die Neuigkeiten aus Peru… und jetzt das. Besser konnte es nicht laufen. Jamie Tyler hatte also beschlossen, seinen Bruder zu finden. Und er war genau am richtigen Ort gelandet. Dummerweise hatte er sich die falsche Zeit ausgesucht. »Wo ist er jetzt?«
»Er sitzt in einer Einzelzelle. Soll ich ihn in den Block bringen?«
»Nein.« Banes dachte kurz nach. Sobald der Junge in den Block kam, würde er wissen, dass seine Tarnung aufgeflogen war. Es würde mehr Spaß machen, seine Hoffnung noch eine Weile aufrechtzuerhalten. Außerdem war ihm Jamie Tyler schon zwei Mal entkommen. Dafür sollte er büßen. Banes würde den Jungen noch ein paar Stunden schmoren lassen und dann in seine Zelle marschieren, um sich an seinem Gesicht zu weiden, wenn er merkte, dass er versagt hatte, dass Schmerzen und der Tod alles waren, was ihm noch blieb. »Stellen Sie die Klimaanlage in seiner Zelle ab«, sagte er.
»Sind Sie sicher?« Das überraschte sogar Koring. »Hier draußen sind sechzig Grad. Der Junge wird gar gekocht werden…« »Zwölf Stunden wird er schon überstehen. Ich fliege heute Nacht. Ich möchte, dass er schön weich ist, wenn ich komme.«
»Er wird nicht weich sein. Er wird weggeschmolzen sein. Aber meinetwegen. Was immer Sie sagen, Mr Banes.«
»Ganz recht, Mr Koring. Was immer ich sage.«
Colton Banes legte den Hörer auf und lehnte sich in seinem Ledersessel zurück. Plötzlich kam ihm das Büro gar nicht mehr so schlecht vor. Draußen schien die Sonne. Es war ein wundervoller Tag.
IM BLOCK
Diese Hitze!
So etwas hatte Jamie noch nie erlebt. Selbst im Theater in Reno war es nie dermaßen schlimm gewesen. Er hatte nicht gehört, wie die Klimaanlage in seiner Zelle abgeschaltet worden war, aber er hatte die Auswirkungen schon Sekunden später gespürt. Die kühle Luft war sofort wie weggeblasen. Die Hitze griff ihn von allen Seiten an. Er fühlte sich wie in einem Ofen, in dem er langsam zu Tode gebraten wurde.
Er hatte so lange gewartet, wie er konnte, seinem Gefühl nach eine Ewigkeit, und dann den Rufknopf an der Tür gedrückt. Die Temperatur stieg immer weiter. Das Sonnenlicht brannte auf die Wände und das Dach, und der Schweiß lief ihm in Strömen über den Körper. Seine Kleidung war durchweicht. Er wagte nicht, tief zu atmen, weil er Angst hatte, seine Lunge zu verbrennen. Es kam niemand. Er drückte wieder und wieder auf den Knopf, aber er begriff schnell, dass er entweder abgestellt war oder man ihn absichtlich ignorierte. War das ein Teil der Strafe für das, was in der vergangenen Nacht passiert war? Er bezweifelte es. Natürlich war er nicht sicher, doch er hatte den Verdacht, dass diese neue Behandlung der Anfang von etwas viel Schlimmerem war.
Er ging zu dem Metallwaschbecken – es war so heiß, dass er es nicht anfassen konnte – und drehte den Wasserhahn auf. Ein dünnes, kühles Rinnsal kam heraus. Bisher hatte er in Silent Creek nur Wasser aus Flaschen zu trinken bekommen. Man hatte ihn auch gewarnt, dass das Leitungswasser nicht gefiltert war. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. Wenn er es nicht trank, würde er sterben. Er ließ etwas Wasser in seine Hände laufen und nahm einen Schluck. Es schmeckte abgestanden und metallisch. Er streifte sein T-Shirt ab, weichte es ein und drückte es über seiner Brust aus. Das Wasser rann über seinen Oberkörper und fühlte sich für wenige Sekunden kühl an. Er presste das feuchte T-Shirt in seinen Nacken. Das würde er immer wieder tun müssen, bis jemand kam oder die Klimaanlage wieder eingeschaltet wurde. Irgendwie wusste Jamie allerdings, dass keines von beidem in nächster Zeit passieren würde.
Die Zeit verging gnadenlos langsam. Da Jamie nicht aus dem Fenster sehen konnte, hatte er auch keine Ahnung, welche Tageszeit es war. Er spürte nur, dass die Hitze in der Mittagszeit noch unerträglicher wurde. Er hatte nichts zu lesen, nichts zu tun. Am liebsten hätte er geschrien und mit den Fäusten gegen die Tür gehämmert, aber er wusste, dass das sinnlos war, weil ihn niemand hören würde.
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