Schattenmacht
rausholen.«
Daniel nickte, und einen kurzen Moment lang hatte Jamie das verrückte Gefühl, dass er jetzt zum ersten Mal in seinem Leben der große Bruder war. So viele Jahre lang hatte er sich auf Scott verlassen, obwohl sie gleich alt waren. Aber Scott war schon eine ganze Weile nicht mehr da, und vielleicht hatte Jamie sich in dieser Zeit verändert. Er hatte lernen müssen, für sich selbst zu denken.
Es gab eine weitere Explosion, und es wurden immer mehr Schüsse abgegeben. Jamie vermutete, dass die Aufseher das Feuer erwiderten. Sie folgten Joe und rannten zurück in die Krankenstation. Als sie diese erreichten, konnten sie den ersten Blick aus dem Fenster werfen. Auf dem Gefängnishof tobte eine erbitterte Schlacht. Der Außenzaun war an drei verschiedenen Stellen niedergerissen, und der Käfig, in dem der Generator stand, war gesprengt worden. Der Generator brannte. Das erklärte den zweiten Stromausfall, und aus unerklärlichen Gründen war der Ersatzgenerator noch nicht angelaufen. Ein halbes Dutzend verschiedender Fahrzeuge stand überall auf dem Hof, vor den vier Blocks, dem Speiseraum, der Sporthalle. Jamie sah Personen, die kurz aus dem Dunkel auftauchten, um auf die Fenster des Gefängnisses zu schießen. Weiße Blitze zeigten an, dass die Aufseher das Feuer erwiderten.
Die drei stießen die Tür auf und rannten tief geduckt in die Nachthitze hinaus. Daniel lief neben Jamie, und er hatte dem Jungen eine Hand auf die Schulter gelegt, um ihn dicht bei sich zu halten. Joe Feather richtete sich auf und rief etwas in einer Sprache, die die beiden nicht verstanden. Es hörte sich beinahe wie ein Kampfschrei an, so laut, dass es trotz der Schießerei auf dem ganzen Gelände zu hören war. Einen Moment später antwortete jemand. Man hörte einen Motor aufheulen, und die Schießerei wurde lauter, als ein Pick-up über den Sandboden auf sie zuraste.
»Nichts wie weg!«, rief Joe.
Der Laster kam schlitternd zum Stehen. Jamie konnte einen Blick auf den Fahrer und seinen Begleiter werfen, der sich mit einem Gewehr im Anschlag aus dem Beifahrerfenster lehnte. Sie waren beide jung – nur ein paar Jahre älter als er. Hastig half Jamie Daniel auf die Ladefläche, dann kletterte er selbst hoch.
»Haltet euch gut fest!«, befahl Joe. Er sprang als Letzter auf den Wagen. Seine Füße hatten kaum den Boden verlassen, da gab der Fahrer auch schon Gas.
Hinter der Fahrerkabine war eine Metallstrebe, an der Jamie stand und sich mit beiden Händen festklammerte. Daniel lag auf dem Holzboden und wurde hin und her geschleudert. Der Gefängnishof war plötzlich voller Löcher – wahrscheinlich entstanden durch die Wucht der Explosionen. Es wurde immer noch geschossen. Eine Kugel streifte das Führerhaus des Pickups und prallte mit einem lauten Knall davon ab. Jamie hatte keine Ahnung, ob das ein Zufall gewesen war oder ob jemand mit Absicht auf sie gezielt hatte. Sie rasten auf den Zaun zu, nur ein paar Meter neben dem Tor, durch das Jamie vor weniger als einer Woche gekommen war. Das Tor war noch da, aber der Zaun nicht mehr. Jamie konnte die Zufahrtsstraße und die Wohnhäuser der Aufseher auf der anderen Seite sehen.
Sie fuhren durch die Zaunlücke. Jamie duckte sich hastig, um nicht in den zerrissenen Drähten hängen zu bleiben, und der Fahrer gab einen Schuss durchs offene Fenster ab. Ein Aufseher fiel um, verwundet, aber nicht tot. Auch die anderen Fahrzeuge fuhren vom Gefängnisgelände. Jamie sah sich um und entdeckte etwa ein Dutzend, die nicht weit entfernt waren.
Der Wind fuhr ihm warm und angenehm durch das Haar, und fast hätte er laut gelacht. Er wusste zwar immer noch nicht, wer diese Leute waren, aber sie waren auf seiner Seite und hatten ihn und Daniel befreit. Er würde Kontakt zu Alicia aufnehmen, und dann würde das Gefängnis für immer geschlossen werden. Und bestimmt wusste einer der Aufseher, eine Krankenschwester oder jemand aus der Verwaltung, wo Scott war. Es musste doch irgendwo eine Akte über ihn geben.
Sie kamen an einem Jeep vorbei, der neben der Straße stand. Jamie sah ihn und vermutete, dass er verlassen war. Den Mann, der sich dahinter aufrichtete, sah er nicht, und auch nicht die Waffe, die sich auf seinen Rücken richtete.
Colton Banes hatte auf ihn gewartet. Ihm war klar geworden, dass es sinnlos war, sich in den Kampf im Gefängnis einzumischen. Dort war es dunkel, und es herrschte ein wildes Durcheinander. Es war besser, sich außerhalb der Anlage auf die Lauer zu legen.
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