Schattenmacht
hatte. Die Worte kamen ganz selbstverständlich aus seinem Mund. »Ich gehe mit euch. Es sieht so aus, als hätte ich keine andere Wahl. Aber da ihr glaubt, mich zu kennen, will ich vorher nur eine Sache von euch wissen: Ist Scott auch hier?«
Die beiden jüngeren Männer tauschten einen Blick, erwiderten aber nichts. Finn sah Scar an und wartete darauf, dass sie ihm antwortete.
»Scott«, sagte sie. »Nennst du so deinen Bruder?«
»Ja.«
»Ihr seid Zwillinge.«
»Ja.« Allmählich wurde Jamie ungeduldig.
»Scott ist hier«, sagte Scar. »Aber das ist nicht unser Name für ihn. Wir nennen ihn Flint. Sapling und Flint. Als ich dich vorhin gesehen habe, dachte ich einen Moment lang, du wärst er. Ich habe es noch nie geschafft, euch auseinanderzuhalten.«
»Wo ist er?« Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit hatte Jamie zumindest ein bisschen Hoffnung.
»Nicht weit weg. Heute übernachten wir in der Stadt der Kanäle…«
»In welcher Stadt?«
»Sie hat keinen anderen Namen – und wenn sie mal einen hatte, ist er schon lange vergessen.« Scar warf einen Blick zum Himmel. Es war ohnehin nicht sehr hell gewesen, aber jetzt wurde es noch dunkler. »Und wir sollten auf Finn hören. Wenn wir noch länger hierbleiben, werden wir alle unsere Eingeweide aufgespießt auf einen Stock wiederfinden, deshalb sollten wir jetzt aufbrechen.«
Jamie griff nach den Zügeln seines Pferdes.
»Ich helfe dir.« Einer der Männer – Corian – hielt ihm die gefalteten Hände hin, damit er aufsteigen konnte. Jamie hatte in seinem ganzen Leben noch nie auf einem Pferd gesessen. Er hatte erst einmal eines von Nahem gesehen – auf einem Jahrmarkt. Aber es war dasselbe wie bei dem Säbel: In dem Augenblick, in dem er sich auf dem Pferderücken aufrichtete, wusste er, was zu tun war. Er war nicht nervös, denn er wusste, dass er das Tier kontrollieren und lenken konnte.
Richtig freuen konnte er sich über diese Entdeckung allerdings nicht. Scar schwang sich mühelos auf ihr eigenes Pferd, und ihr Gesichtsausdruck sagte ihm, dass sie keine zwei Männer brauchte, die ihr hochhalfen. Finn, Erin und Corian saßen genauso flink auf.
»Zur Stadt«, sagte Scar.
Sie ritten los, und Jamie hatte keine Ahnung, wo er war oder wohin er ging. Doch er fand es sehr tröstlich, dass er wenigstens nicht länger allein war.
IN DER RUINENSTADT
Scar hatte gesagt, dass sie zehn Werg reiten mussten, aber da Jamie nicht wusste, wie weit ein Werg war, kam es ihm vor, als wären sie eine Ewigkeit unterwegs.
Sofort nach dem Aufsitzen hatte Jamie gemerkt, dass das Reiten – wie alles andere – irgendwie in seinem Gehirn einprogrammiert war. Er hatte keine Probleme damit, sein Pferd dazu zu bringen, dass es tat, was er wollte: anhalten, losgehen, rechts oder links abbiegen, zurückbleiben oder beschleunigen. Er fühlte sich kein bisschen unsicher, sondern hielt mühelos das Gleichgewicht und wusste genau, dass er nicht herunterfallen würde. Es war, als wäre er sein Leben lang geritten.
Trotzdem konnte er es nicht erwarten, endlich anzukommen, und er hätte alles für eine Ruhepause, eine Mahlzeit und eine heiße Dusche gegeben. Doch es wurde immer deutlicher, dass er keines davon bekommen würde.
Die Landschaft tat ihr Übriges. Wie sollte er feststellen, ob sie vorankamen, wenn alles gleich aussah – öde und deprimierend? Es gab kein sichtbares Ziel. Sie folgten der Straße, eigentlich nur ein Trampelpfad, der im Gras und Matsch kaum zu sehen war. Und obwohl sie in Richtung der Hügel ritten, die Jamie in der Ferne gesehen hatte, schienen diese kein bisschen näher zu kommen. Ein paar uralt aussehende Bäume sorgten für ein wenig Abwechslung, und gelegentlich sahen sie auch große Granitbrocken, die den Anschein machten, als wären sie aus dem Weltraum herabgestürzt. Davon abgesehen gab es nichts.
Jamie wusste nicht, wie spät es war. In Silent Creek hatten sie ihm seine Uhr abgenommen, und er rechnete nicht damit, sie jemals wieder zurückzubekommen. Er schaute nach oben. Der Himmel wurde dunkler, aber es war schwer zu sagen, wann die Nacht hereinbrach, weil auch tagsüber die Sonne nicht geschienen hatte. Ihm war immer noch kalt. Der ältere der beiden Brüder – Corian – hatte gesehen, wie er zitterte, und ihm eine Jacke gegeben. Es war genauso eine, wie sie auch trugen, und sie reichte bis zu den Knien. Sie hatte keine Taschen und keine Knöpfe. Jamie nickte dankbar und wickelte sich in den schweren Stoff ein. Einen großen Unterschied
Weitere Kostenlose Bücher