Schattenmacht
Händen, das auf ihren Oberschenkeln ruhte. Es sah aus, als würde sie beten. Als sie Finn hörte, stand sie auf und drehte sich um. Fast anklagend sah sie ihn an.
»Was willst du hier, Finn?«, fragte sie streng.
»Dir auch einen Guten Morgen«, antwortete Finn.
»Ich habe geschlafen.«
»Hast du nicht.« Finn warf einen Blick auf das Bündel. »Ich wusste, dass du hier sein würdest«, sagte er. »Gib mir das.«
»Warum?«
»Weil ich etwas beweisen möchte.«
Scar zögerte, doch dann hielt sie ihm das Bündel hin. Vorsichtig wickelte Finn den Stoff ab und holte einen runden Schild aus dunklem Metall heraus. Rund um den Rand verlief ein kompliziertes Muster aus Blättern. Dieser Schild hatte keinen Dorn in der Mitte, sondern ein eingearbeitetes Muster. Jamie starrte es ungläubig an. Er hatte es sofort erkannt. Es war eine Spirale, die von einer geraden Linie in zwei Hälften geteilt wurde. Es war genau dasselbe Symbol, das er schon sein ganzes Leben auf der Schulter trug.
Er war sicher, dass es das war, was Finn ihm hatte zeigen wollen. Aber Finn legte den Schild zur Seite.
Stattdessen holte er ein Schwert heraus und hielt es Jamie hin. Auch in die Waffe war ein Symbol eingearbeitet – ein fünfzackiger Stern auf dem Griff. Jamie sah, dass blaue Edelsteine – Lapislazuli – den Stern bildeten und dass sie in Silber gefasst waren. Die Klinge war ungewöhnlich dünn und wog fast nichts. Er hätte nicht gedacht, dass sie überhaupt etwas durchdringen konnte, aber er bemerkte auch, dass sie so scharf geschliffen war wie ein chirurgisches Instrument. Er schwang die Waffe probeweise und hatte das Gefühl, als könnte er damit sogar die Luft in zwei Hälften schneiden.
»Das gehörte ihm«, sagte Jamie.
»Ja.« Finn wich seinem Blick nicht aus. »Jetzt sag mir, was in die Klinge eingraviert ist. Lies es nicht ab. Sag es mir einfach.«
Scar, die immer noch neben dem Altar stand, erstarrte. Sie mischte sich aber nicht ein.
»Frost«, murmelte Jamie.
»Siehst du?«, sagte Finn zu Scar. »Er hat es gewusst.«
Jamie betrachtete das Schwert. Auf der Klinge war ein einziges Wort eingraviert. Die Buchstaben waren ihm unbekannt – wie Hebräisch oder Griechisch –, und eigentlich hätte er nicht fähig sein dürfen, sie zu lesen. Aber er erfasste sie sofort.
FROST
»Das ist der Name des Schwerts«, erklärte ihm Finn. »Sapling hat es so genannt, weil er gehofft hat, dass es seine Feinde zu Eis erstarren lässt. Er hat es bei sich gehabt, als er nach Scathack Hill geritten ist. Wir haben es gefunden, kurz bevor wir auf dich gestoßen sind. Er muss es im Kampf verloren haben. Siehst du es jetzt?« Er warf Scar einen Blick zu. »Seht ihr beide es jetzt? Etwas passiert hier – irgendein Zauber, den wir nicht verstehen. Aber dieser Junge ist Sapling, daran besteht kein Zweifel, auch wenn er es vergessen hat.« Er schaute weg und war plötzlich wieder schroff. »Hoffen wir nur, dass er nicht auch vergessen hat, wie man kämpft.«
Kurze Zeit später betraten die fünf den Tempelvorplatz: erst Scar und Jamie, dann Erin und Corian und schließlich Finn. Sie alle waren mit Schwertern, Dolchen und Schilden für die Schlacht gerüstet. Jamie warf Erin einen Blick zu und beobachtete, wie er die Handfläche seiner Eisenhand berührte. Sofort sprangen fünf Klingen aus jedem Finger und dem Daumen hervor. Gleichzeitig griff er mit der gesunden Hand nach einem Dolch, den er im Gürtel stecken hatte.
Ihre Armee war bereit: hundert Männer, Frauen und Kinder, die geduldig auf den Befehl warteten, der sie entweder zum Sieg oder in den Tod führen würde. Scar trat vor. Sie trug ein Schild mit demselben Blattmuster am Rand, das Jamie auf dem anderen Schild gesehen hatte, aber in der Mitte war das Bild einer Eidechse mit schräg stehenden Augen und einem stachligen Schwanz. Scar trat drei Schritte von der Menschenmasse weg und hob ihr Schwert. Jamie fragte sich, ob er dasselbe tun sollte, aber er war zu verlegen dazu. Er stellte fest, dass alle Augen auf Scar gerichtet waren. Doch ihn beobachteten sie auch.
»Heute ist der Tag, auf den wir gewartet haben!«, rief sie, und obwohl sie jung und ziemlich klein war, hallte ihre Stimme mühelos über den ganzen Vorplatz. »Ich kann nicht sagen, wie die Welt zu dem geworden ist, was sie heute ist. Ich weiß nicht, woher die Alten gekommen sind oder wie sie die Macht an sich reißen konnten. Ich kann euch nur sagen, dass das jetzt ein Ende hat. Nach dem heutigen Tag wird
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