Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
vermittelten Hinweis erhalten, noch am selben Abend seinen Kontostand zu prüfen.
Nachdem sich der Golf außer Sichtweite befand, verlangsamte Martin seinen Schritt, bis er schließlich auf dem Bürgersteig stehen blieb, nicht wissend, wohin er überhaupt gehen sollte. Nach Hause? So tun, als wäre alles in bester Ordnung, als gäbe es keinen Chef, den er, wenn er ihn träfe, mit ›Hi, na, heute schon jemanden umgelegt?‹ begrüßen sollte? Sollte er sich die Nachrichten mit seiner Verlobten im Fernsehen ansehen? Die Berichte über das Attentat auf Lohmeyer, dessen vermeintlichen Mörder er schon kannte. Thomas Wieland, dessen Namen er noch nie gehört hatte, über den sich in der Verbrecherkartei auch sicher nichts finden lassen würde. Oder sollte er in Anbetracht der anstehenden Landeswahl den inszenierten Reden der Politiker lauschen, die irgendjemand für sie geschrieben hatte und sie zu Sprachrohren ihrer selbst machte, zu Marionetten?
Martin brauchte eine Weile des Stillstands. Passanten sahen sich nach ihm um, betrachteten ihn kurz und wunderten sich. Er fühlte sich allein, verwirrt und wie zu Beginn seines letzten Falles, der ihn ins Krankenhaus und in die Zeitungen brachte, hilflos. Er fasste einen Entschluss. Er wollte reden. Reden mit einem Menschen, von dem er sicher war, dass er vollkommen normal war, intelligent, belesen und besonnen. Einem väterlichen Freund, den er in seinem Leben nicht mehr missen wollte: Alois Feldmann, verschrobener Ex-Priester, Büchernarr, Referent und Seminarleiter für ausgebrannte und einen Lebenssinn suchende Manager, ehemaliger Zellengenosse in den Fängen von Lars Dräger, der toten Bestie mit einem Faible für mittelalterliche Folterinstrumente, die er an Martin Pohlmann ausprobiert hatte.
Martin beschleunigte seine Schritte, rannte fast zum Parkplatz zu seinem BMW, erwog kurz, Catherine anzurufen, ließ es dann aber doch. Bevor er wieder log, beschloss er lieber zu schweigen.
Den Weg nach Winsen an der Luhe fand er mühelos. Zu oft war er dorthin gefahren, zu viel war passiert, als dass er diesen Weg hätte jemals vergessen können.
Martin parkte seinen Wagen vor dem Haus in einer verkehrsberuhigten Straße. Nette Vorgärten mit schmiedeeisernen Törchen, Rosen und bunten Rabatten dahinter, die perfekte Illusion einer Kleinstadtidylle.
Feldmanns Haustür öffnete sich und Martin erschrak. Der Mann, den er Wochen zuvor das letzte Mal gesehen hatte, hatte sich verändert. Graue Schatten hingen unter tiefgründigen Augen, der um viele Kilo leichter gewordene Körper gebeugt, das graue Haar buschig und zerzaust – die gesamte Erscheinung ungepflegt. Die blaue Strickjacke hing wie ein Vorhang vor der Bühne seines Inneren, verbergend, was niemand sehen sollte, wen niemand sehen sollte: den Tod.
»Hallo, Martin. Mit dir hätte ich heute nun gar nicht gerechnet.« Feldmann bemühte ein Lächeln herbei. Die Pantoffeln an seinen Füßen schienen um Nummern zu groß. Der Mann, der noch 90 Tage zuvor ein Meter achtzig maß, schien wie Alice im Wunderland geschrumpft worden zu sein, nur die Kleidung war nicht mitgeschrumpft worden.
»Mensch, Alois. Du siehst ja furchtbar aus.«
Feldmann stieß ein heiseres Husten aus. »Ehrlich warst du ja schon immer, Martin. Freue mich auch, dich zu sehen.«
»Nein, im Ernst. Was ist passiert?«
Feldmann wandte sich ab, ließ die Frage unbeantwortet im Raum stehen. Martin schloss die Tür hinter sich. Gemeinsam gingen sie einen schmalen Flur entlang und kamen ins Wohnzimmer. Monate zuvor hatten Werner Hartleib und Martin im Rahmen ihrer Ermittlungen hier Platz genommen und Tee serviert bekommen. Alois Feldmann war, wie sechs andere ehemalige ›Lebensbornkinder‹ ins Visier jenes Serienkillers Lars Dräger geraten. Feldmann wähnte sich durch himmlischen Beistand beschützt genug, als dass er polizeiliche Hilfe in Anspruch nehmen wollte, bis zu dem Tag, an dem er, gemeinsam mit Emilie Braun und Pohlmann, von Dräger entführt und in dessen Kellerverlies gesperrt wurde. Ab diesem Tag kam sein sonst unerschütterlicher Glauben ins Wanken. Nie gekannte Fragen stiegen in ihm auf, schrien nach Gebet und schneller Beantwortung und führten ihm die Fragilität menschlicher Existenz vor Augen und zwar der eigenen und nicht die der anderen. Nachdem es den dreien gelungen war, lebend der Zelle Drägers zu entkommen, verbrachte Martin einige Zeit im Krankenhaus und in der Reha und Alois versank in einem Zustand depressiver Neuorientierung,
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