Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Tür des Arbeitszimmers und trat die Flucht an. Der Eindringling war jedoch nicht gekommen, um sich von einer Frau überrumpeln zu lassen, sondern um sie einzuschüchtern, zu quälen und nun, da sie ihn gesehen hatte und identifizieren könnte, zu töten.
Einen Meter von ihm entfernt, wandte sie sich um. Bei seiner Körpergröße brauchte er sich nur nach vorn zu beugen, den Arm auszustrecken, um sie noch zu erwischen. Sie schrie nach Leibeskräften, wand sich hin und her, vergaß ihre Leibesfülle und dachte nur ans Überleben. Nie hatte sie diese Kräfte gekannt, die man entwickelte, wenn man in Not war, eine letzte kleine Chance sah, einem Angreifer zu entkommen. Doch der Schwarze war stärker als sie. Er packte sie am Arm, griff nach ihrer Bluse, hätte alles mit ihr gemacht, wäre nicht die Bluse eingerissen. Er hielt den Stoff in seiner Hand, der langsam zwischen den Fingern herausrutschte, während sie aus dem Zimmer floh, über ihre eigenen Füße stolperte, den Halt und dann das Gleichgewicht verlor.
Im Fallen sah sie das Dachfenster über ihr. Die Zeit schien ihr penetrantes, drängelndes Anrecht aufzugeben, hörte auf zu eilen. Die Sonne schien hinein, auf ihr Gesicht. Sie wollte den Lauf der Dinge anhalten, die Sonne auf ihrer Haut für alle Ewigkeit spüren, doch die Ewigkeit schien andere Pläne mit ihr zu haben.
Am Absatz der obersten Treppenstufe rutschte jener Fuß, mit dem sie den Fremden in all ihrer Verzweiflung getreten hatte, über die Kante. Mit dem Rücken der Treppe wie einem Schlund zugewandt, ruderte sie mit den Armen, suchte einen Halt mit den Händen. Sie glitt am Geländer mit den Fingerspitzen ab und fiel. Drei, vier Stufen segelten an ihr vorbei, bis sie aufschlug, nach hinten weiterpurzelte und mit einem Schlag auf das Genick am untersten Treppenabsatz reglos liegen blieb. Der Kopf lag sonderbar schief, die Augen waren geschlossen, die Beine und Füße auf höheren Stufen gelegen.
Carlos eilte hinunter und betrachtete die verdreht liegende Frau mit dem Kopf am Geländer. Ein feines Rinnsal roten Blutes lief daran herab. Er bückte sich zu ihr hinunter und hielt seine fleischigen Finger an die Halsschlagader. Er fand keinen Puls. Doch er war sich nicht sicher. Eine Weile fixierte er das Messer, auf dessen Klinge das Sonnenlicht reflektierte. Auch daran war Blut. Er erwog, es zur Sicherheit in ihren Leib zu rammen, doch er vermutete, er würde nur das Kind treffen. ›Also das Herz‹, plante er sein Werk zu vollenden, doch dann würde das Kind überleben. Auch blöd. Andererseits erkannte er keinerlei Atembewegungen und mutmaßte, dass sie schon tot war, was eine weitere Aktion mit seinem Messer erübrigen würde.
Ohne große Mühe hatte er die Einundzwanzig erreicht.
Kapitel 27
Juni 2011, Lüneburg
Gegen Abend fuhr Jerome Richtung Lüneburg zurück. Diesmal erlaubte er Martin, schon nach kurzer Zeit den die Augen bedeckenden Sack abzunehmen. Nachdem sie Hamburg verlassen hatten und auf der Autobahn fuhren, atmete Martin erleichtert auf. Die Tragetasche, oder was auch immer dieses Teil einmal war, stank bestialisch, schien seinen moderigen Duft nicht zu verlieren und auf der Fahrt kam Martin zum ersten Mal der Gedanke, dass womöglich schon andere Menschenköpfe darin ausgeharrt haben mochten. Stammte der Geruch von ihren Ausdünstungen, ihrem Angstschweiß auf Stirn und Oberlippe, ihrem Mundgeruch? Oder hatte der Sack einfach nur eine Weile in einem dreckigen Kellerloch gelegen, bevor er seine Bestimmung fand?
Der Weg nach Hause war weiter als sonst gewesen. Jerome hatte eine andere Route gewählt, einige Umwege eingeplant und den Wagen so unauffällig wie möglich geparkt. Der Golf hielt in einer abgelegenen Seitenstraße in einem Industriegebiet. Jerome musste auf der Hut sein und beobachtete jedes und alles sich Bewegende kritisch in seinen Rückspiegeln. Er war wachsam und sprach kein einziges Wort.
Martin wurde aus diesem Mann nicht schlau. Noch nie hatte er jemanden kennengelernt, der so schnell und intensiv seine Stimmungen wechselte. Launisch und wankelmütig wie böiger Wind, und doch empfand er diesen Mann als interessant, geheimnisvoll und tiefgründig, auf sonderbare Weise sogar sympathisch.
Martin stieg aus und winkte. Er raunte ein leises » Tschüs, bis bald « ins Wageninnere . Ja, er wollte ihn wiedersehen, das war ihm klar. Sie duzten sich, waren so etwas wie Kumpels geworden. Nie zuvor war er einer so großen Sache auf der Spur gewesen. Ehrgeiz und
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