Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
hätte. Dass sie in Ruhe gelassen werden wollte und er nicht mehr anrufen möge. Sie sagte ihm alles, was andere, die mithörten, von ihr erwarteten. Wie sollte sie ihn auch wissen lassen, dass sie für jeden Hinweis zur Aufklärung dieses feigen Mordes dankbar wäre. Alle Telefone im Haus waren bereits seit Wochen verwanzt und es gab keinen Raum, in dem sie sich frei bewegen konnte. Sie hatte die Telefonnummer eingesteckt und würde, sobald die Belagerung der Presse abflauen würde, eine der letzten Telefonzellen in der Stadt aufsuchen und es versuchen, ihn zu erreichen. Auch sie war beseelt von einem Gefühl, das sie als Rache identifizierte. Ein Konglomerat aus Trauer, Verzweiflung und dem Wunsch nach Genugtuung und Strafe.
Nach der Trauerfeier fühlte sie sich ermattet und wünschte sich nichts sehnlicher, als ein normales Leben zu führen. Solange die Mörder ihres Mannes jedoch frei herumliefen, wollte sie sich keine Ruhe gönnen, an Normalität war nicht zu denken. Der Anruf des Kommissars am Morgen war die erste und einzige Handreichung seitens des gesamten deutschen Staatsapparates gewesen. Terroristische Anschläge waren kompliziert und nicht selten entstanden internationale Konflikte durch ungerechtfertigte Schuldzuweisungen. Sie ahnte, dass, obwohl eine eigene SOKO gegründet worden war und sie durch Beamte explizit befragt worden war, die Ermittlungen im Sande verlaufen würden. Der Tod ihres Mannes war minutiös geplant und durchgeführt worden und mit einem ganz konkreten Zweck verbunden gewesen. Er sollte zum Schweigen gebracht werden und sie wusste es. Zwei Tage vor dem Anschlag hatte er ihr gegenüber eigenartige Andeutungen gemacht. Etwas in der Art, dass, wenn ihm etwas passieren würde, sie denjenigen Ermittler, der ernsthaft an der Aufklärung interessiert sei und dem sie vertrauen würde, zu Sokolow führen sollte. Mit dem Hinweis auf einen besonderen USB-Stick im Safe habe er sie umarmt und ihr versichert, dass er sie liebe.
Sie kannte diesen Pohlmann nicht, doch warum sollte sie an dem, was er sagte, Zweifel hegen? Sie traute niemandem mehr und doch gab es da eine feine Stimme, die ihr riet, die Nummer anzurufen.
Gegen siebzehn Uhr wurden sie und ihre Familie von Beamten nach Hause gebracht. Ihre Schwiegermutter wohnte derzeit bei ihnen. Sie stützten sich gegenseitig in ihrem Kummer. Zehn Minuten, nachdem die Beamten fort waren, ging sie zum Fenster und schaute vorsichtig hinaus. Sie schob die Gardine einen Spaltbreit zur Seite und konnte niemanden entdecken.
»Ich muss noch mal weg«, sagte sie. »Ich brauche frische Luft. Ein kleiner Spaziergang wird mir guttun.«
»Jetzt noch?«, entgegnete die alte Dame. Sie hatte ihren Sohn verloren, nun konzentrierte sie ihre Fürsorge auf die Schwiegertochter und ihre Enkel.
»Ich bin bald zurück. Mach dir keine Sorgen.«
Während sie sich den Mantel überzog, strich sie der um einen Kopf kleineren Frau über die Wange. Dann verließ sie das Haus, blickte sich zu allen Seiten hin um und ging los. Ihre Schritte knirschten auf feinem Kies, schon bald war sie nicht mehr zu hören. Wachsam schaute sie sich um, sie wähnte sich sicher. Die Show war vorbei. Auch die Medien hatten ihr Interesse verloren. Es gab Wichtigeres, als einer trauernden Frau nachzustellen.
Sie wusste, welchen Weg sie gehen musste. Ihr Haus, erbaut etliche Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, stand in Hamburg Volksdorf, einem angenehm grünen Vorort, dreizehn Kilometer von der City entfernt.
Ihre Schritte führten sie zielstrebig zu einem Platz, der unscheinbar und doch effektiv für sie sein würde. Immer wieder drehte sie sich um. Als sie sich der alten Telefonzelle in der Stein-Hardenberg-Straße in Hamburg Farmsen-Berne näherte, legte sie ihr Kopftuch über die Haare und knotete es unter dem Kinn zusammen. Sie trug eine große Sonnenbrille, die einen Teil des Gesichtes verdeckte. Nur wenige Stunden zuvor hatte jedermann sie in den Medien gesehen, nun sollte sie niemand erkennen, wenn sie von einem öffentlichen Münztelefon aus telefonierte.
Während sie den Weg entlanglief, fühlte sie den Zettel mit der Handynummer und zog ihn heraus. Das vorbereitete Kleingeld steckte sie in den Schlitz des Telefons. Eine gute alte Zelle der deutschen Telekom, die keinem Vandalismus anheimgefallen war. Die Nummer schien korrekt zu sein, es ertönte ein Freizeichen, doch beim fünften Klingeln nahm noch immer keiner ab. Vielleicht hatte sie sich verwählt. Sie drückte auf die Gabel, die
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