Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
in der Mitte ihrer Netze gemütlich, bis sie verhungerten, weil sich keine Fliege in diese Ödnis verirrte. Die Spinnenleichen verwesten, übrig blieben ihre unverwüstlichen, viele Jahre überdauernden Netze, die sich nun über Werners bleiches Gesicht legten und ihn schaudern ließen. Werner wischte sie von der Haut, fluchte still, ausnahmsweise, und schritt Fuß für Fuß weiter voran. Er hoffte einen Lichtschalter zu finden, doch vermutete er, dass in diesem Haus kein Strom mehr durch die Kabel floss. Er wusste nichts von durch Computer manipulierte Schaltkreise, die dieses Haus, wie an einem Tropf hängend, am Leben erhielten.
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Reinhard Schöller umfasste die Klinke von Konferenzraum 17 und ließ sie nicht los. Bisher hatte er in seinem Leben nie Skrupel gehabt. Für seine Karriere ging er, wie man so sagte, über Leichen. Sie säumten seinen Weg wie Gänseblümchen und bescherten ihm neben der Anerkennung, die er so sehnlichst begehrte, ein üppiges Bankkonto. Dass seine Frau bei diesem Lebensstil alkoholkrank geworden war und sein Sohn, wie er vermutete, nicht einfach in einem nicht standesgemäßen, hässlichen Nike-Dress von einem moosbedeckten Steg gerutscht war, schienen der faire Preis für dieses Leben zu sein. Nicht dass es ihn nicht kümmerte, aber ändern konnte er es auch nicht mehr. Nun jedoch ging es um weit mehr, als in der Liga der Wegbegleiter der Neuen Weltordnung mitzuspielen, den Kopf oben zu halten und auf das gemeine Volk herabzublicken. Nun galt es, diese Position für einen Tag, eine Woche, einen weiteren Monat oder im günstigsten Fall ein ganzes Jahr zu halten. Es ging schlichtweg darum, seinen eigenen Arsch zu retten.
Viele Jahre war alles gut gegangen, bis zu dem Tag, an dem ein neuer Blog ins Leben gerufen worden war. ›The Voice of The People‹ hieß er, ein Journalist, der sich nicht zu erkennen geben wollte und die ungeheuerlichsten Dinge herausposaunte. Dinge, die er gar nicht wissen konnte, nicht wissen durfte, weil es brisante Geheimnisse waren, die seitdem diesen Namen nicht mehr verdienten. Jemand schien es sich zu seiner Aufgabe gemacht zu haben, die Bevölkerung über die widerwärtigsten Seilschaften der Politiker aufzuklären und dieser Jemand machte seine Sache verdammt gut. Doktorarbeiten zu fälschen und sich Plagiatsvorwürfen zu stellen, waren Peanuts gegen die Vorwürfe, die ›The Voice‹ gegen manche Promis erhob und sie teils auch beweisen konnte. Er war beliebt im Netz, zählte auf dem Counter zu den meistgelesensten Seiten, präsentierte leicht verzerrte Videos, sorgfältig geschnitten. Einige Tage nach der Veröffentlichung purzelten manche Köpfe von ihren Hälsen, wurden ihrer Ämter enthoben oder zum Rücktritt genötigt. Unabhängige Zeitungen boten ihm astronomische Summen an, um seiner habhaft zu werden, um ihn dann an die Bilderberger, von denen sie ihre Lohnschecks erhielten, zu verpfeifen.
In den USA wurde das FBI auf ihn aufmerksam, weil er nicht nur deutsche Machenschaften anprangerte, sondern auch intime Details amerikanischer Polit-und Finanzgrößen zum Besten gab. CIA setzte die besten Computerfachleute auf ihn an, um den Server zu finden, über den sein Blog lief, doch ›The Voice‹ schien allen um eine Nasenlänge voraus zu sein. Ein Genie, das es nicht nur verstand, brillant zu recherchieren, journalistisch, beinahe prosaisch zu schreiben, sondern der auch noch ein Ass war in Sachen Verschlüsselungstechnologie und dem geheimen Senden brisanter Informationen. Er wurde ein Feind der bösen Saubermänner, krawattentragender Heuchler, außen hui, innen pfui. Ein Gerechtigkeitsfanatiker, der eine Fangemeinde von mehreren Hunderttausend Lesern aufgebaut hatte, nur nicht innerhalb der Bilderberger und der Polizei.
Ihn zu fassen, hatte man Reinhard Schöller nahegelegt. Schöller verfügte innerhalb seiner Tätigkeit als Polizeipräsident über ein ausgeprägtes Netzwerk und konnte mit einer dreistelligen Zahl an Spitzeln aufwarten, die ihre Mutter ans Messer geliefert hätten, hätte man danach ihre Akte gesäubert. Doch die Welt schien zusammenzuhalten. Niemand war bereit, ›The Voice‹ ans Messer zu liefern, nicht für Straffreiheit, Geld oder für Ansehen und Position. Abgesehen davon, gab es niemanden, der ihn wirklich kannte. Die Maschinerie der Bestechung und Korruption funktionierte auf einmal nicht mehr, Hilflosigkeit machte sich breit und Reinhard Schöller verlor mehr und mehr sein Ansehen bei den Bilderbergern, deren Ruf
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