Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Sie huschten so schnell vorbei, er konnte ihnen nicht folgen: Jahrelange Recherche, mühsam gesammelt, zusammengefasst, archiviert und an diesem Tag, zusammen mit den letzten Beweisen zu dem mörderischen Wesen dieser Bande, vervollständigt. Und als Sahnehäubchen auf dem Dessert ein taufrisches Geständnis eines ihrer Killer, eines Saubermanns, der jahrzehntelang die Bürger getäuscht hatte: seines Vaters. Worte, in ein verstecktes Mikro geflucht, das er, Jerome, ebenso wie Martin am Leib getragen hatte.
Der Tag seiner Rache war gekommen.
Es reichte ihm nicht, dass der Staatsanwalt davon erfuhr, die ganze Welt sollte es wissen. Reinhard Schöller, die miese Drecksau, sein beschissener Erzeuger.
Jerome hatte Neues mit länger Zurückliegendem gemischt: Fotografien, Videos, Audiomitschnitte, gescannte Unterlagen aus dreißig Archiven, zu denen er sich Zutritt verschafft hatte als Marcel Duchamp, Karl-Heinz Lamprecht, Jerome Dutroit, Claude Renier, Louis Kaltenburg und Phillip Dornstein, nur nie als Frank Reichstein, der Gute war ja leider verblichen.
*
Sie hämmerten an der Tür im fünften Stock, stemmten sich dagegen und merkten früh, dass es keinen Sinn machte. Eile war geboten, um jeden Preis. Martin und die Kollegen, die er wieder befehligen durfte, nachdem der Staatsanwalt ihm sein Leben zurückgegeben hatte, trafen am Kleinen Grasbrook ein, fanden Werners Dienstwagen und ein Handy neben frisch Erbrochenem. Eine feine Blutspur, wie von einem Maler auf die Leinwand geworfen, hatte sie zum hinteren Teil des Hauses geführt. Martin kannte den Weg – leider.
Die Tür im fünften Stock gab keinen Millimeter nach. Jerome sah sie auf dem Monitor stöhnen und ächzen und wand sich in diabolischer Freude. Die letzten Mails mit allen Unterlagen waren verschickt. Sein Werk war getan. Nun konnte er gehen. Er erhob sich und sah noch auf einem der Monitore, wie zwei Beamte zurücktraten und auf die Tür und das Schloss schossen. Die ersten vier Kugeln richteten wenig aus, die fünfte ließ das Schloss zerbersten.
Ein kräftiger Polizist stemmte sich gegen die Tür, sie schlug nach innen auf. In dem Wissen, dass sich hinter der Tür ein bewaffneter Psychopath befand, vollzogen sie ihr erlerntes Programm zum Erstürmen verschlossener Räume, sicherten den Zutritt und fanden Werner, zu jeglicher Bewegung unfähig, apathisch auf einem Stuhl hockend. Den Kopf zur Seite geneigt, Speichel rann aus seinem Mundwinkel herab, die Augen waren geöffnet und unbeweglich. Auf dem Boden eine Lache Blut, groß wie ein Pizzateller.
Martin stürmte hinter den bewaffneten Beamten her, alles war ihm bekannt: der große Raum, der einer literarischen Lagerhalle mit all seinen am Boden verteilten Dokumenten, Artikeln und Ordnern glich.
Martin blickte sich hektisch um und fand Werner auf dem Stuhl kauern. Die Jacke hing ihm schief am Körper, wie auch seine Mundwinkel, seine Fältchen um die orientierungslosen Augen herum, alles schien in Unordnung zu sein, innerlich wie äußerlich. Die Wunde am Arm schien nicht lebensbedrohlich zu sein.
Werner reagierte auf Zuruf mit zögerlichem Anheben des Kopfes, einem verhaltenen Nicken gleich, und gottlob einem sonderbar verklärten Grinsen. In tieferen Schichten erkannte er Martin, seinen Freund und nun seinen Befreier, konnte aber nicht adäquat reagieren. Er wusste, man würde ihn von dort wegbringen, und dieses Wissen genügte einstweilen.
Die Beamten stoben in alle Richtungen und Verzweigungen, die diese Etage zu bieten hatte. Einer der Männer schrie entsetzlich, als er in einem hinteren Raum verschwand, einem badezimmerähnlichen Verschlag, der einen strengen Geruch verströmte.
Martin hörte den Schrei, erfasste aber gleichzeitig, was Jerome zu tun beabsichtigte. Er hatte eines der hinteren Fenster geöffnet und war hinausgeklettert.
Das Haus bot auf der hinteren Seite eine Art Sims, einen Vorsprung, auf dem man stehen und balancieren konnte. Jerome beabsichtigte zu springen, musste aber einige Schritte gehen, um nicht im Gebüsch, sondern auf hartem Asphalt zu landen.
Unschlüssig, wann der richtige Zeitpunkt dafür gekommen wäre, ob mit Publikum, theatralisch oder lieber still und einsam, verharrte er auf dem Absatz und blickte mal nach unten, mal nach innen, als hielte er Ausschau nach jemandem, von dem er sich noch verabschieden wollte.
Der Beamte, der die hinteren Räume gesichert hatte, kam leichenblass wieder hinaus, hielt die Waffe gesenkt und plagte sich offensichtlich
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