Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
aber sie stiegen nicht aus. Stattdessen ging es wieder nach unten, sie hielten an und rappelten wieder nach oben. Ein albernes Spiel der Verwirrung, das Martin zunehmend verärgerte, und ja, es verängstigte ihn sogar. Als sie ein letztes Mal anhielten, öffnete sich die Tür mit lautem Knatschen. Die letzte Wartung für diesen Kasten war garantiert schon lange überfällig. Sie stiegen, für Martin immer noch nicht sichtbar, im obersten Stockwerk aus. Trotz der Jute über seinem Kopf spürte er kalte, zugige Luft, die an seinem Hals entlangkroch. Sie gingen ein paar Schritte durch kurze Flure und blieben stehen, als Jerome ihn an der Schulter packte. Er drehte ihn mehrfach um die eigene Achse, bis Martin schwindelig war, dann schubste Jerome ihn in einen Gang.
Übertrieb er nicht damit gehörig, dieser Idiot?
»Stopp, wir sind da.«
Martin schwenkte den Kopf hin und her, wollte den Sack über dem Kopf loswerden.
»Eine Sekunde Geduld noch.« Jerome schloss auf. Bevor er losgefahren war, um Martin abzuholen, hatte er alle Fenster verriegelt und verdunkelt. Diese Etage hätte sich genauso gut in einem Keller befinden können. Martin war durch das permanente Auf und Ab des Fahrstuhls derart verwirrt, dass er im Nachhinein nicht hätte sagen können, in welchem Stockwerk sie sich befanden. Er versuchte, Gerüche zu erkennen, die ihm seinen Aufenthaltsort verraten könnten, doch der Gestank nach Fäulnis direkt vor seiner Nase machte jede weitere olfaktorische Wahrnehmung unmöglich.
Im Inneren der Höhle, die Jerome bewohnte, gab es nichts, was auf seinen Aufenthaltsort hätte präzise schließen lassen können.
»So, ich denke, wir können Ihnen jetzt das Mützchen abnehmen.« Jerome löste den Knoten unter Martins Kinn und zog mit einem Ruck den Jutesack von seinem Kopf. Martins Haare stoben wie elektrisiert in alle Richtungen, das Gummiband zerriss. Er sah fast nichts, es war schummerig in dieser Halle, die endlose Ausmaße zu haben schien. Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dämmerung. Er kramte in seiner Jeanstasche und fand ein schwarzes Gummiband, mit dem er die Mähne erneut bändigte. Sogleich blickte er sich wieder um.
»Musste das unbedingt sein? Mist.«
Jerome fegte den Einwand mit einer lapidaren Handbewegung weg. »Ich wollte es auch mal ein bisschen spannend machen, so wie im Film. Dort sind die Spitzel auch immer inkognito. Außerdem, so lange kennen wir uns noch nicht, dass ich Ihnen gleich alles auf einmal auf die Nase binde. Immer schön eins nach dem anderen. Was Sie heute erfahren werden, sprengt sowie schon Ihren bisherigen Horizont. Einen kleinen Preis muss man schon dafür zu zahlen bereit sein.«
Martin sah sich in der Halle, die die Bezeichnung ›Wohnung‹ nicht verdiente, um und staunte nicht schlecht.
»Na, mal nicht so arrogant, Freundchen. Nur weil hier ein paar Monitore stehen, heißt das noch lange nichts.«
»Ich weiß, was ich kann, und Sie wissen es auch. Ich erinnere Sie ja nur ungern daran: die Fotos, die erfolglose Suche Ihres Freundes nach meinem Aufenthaltsort, der Abtritt des Familienministers – all das ist nur eine Kleinigkeit gemessen an dem, was möglich ist und was von den richtig bösen Jungs tagtäglich praktiziert wird.«
Martin streifte durch den riesigen Raum. Auf einer Fläche von über 400 Quadratmetern, so schätzte er, wurde nur eine Ecke wirklich genutzt. Jerome hatte dort Licht gemacht, eine Reihe ungemütlicher Neonröhren erwachten flackernd zum Leben. In der Luft hängende Staubteilchen verharrten schwerelos wie feiner Nebel in Höhe seiner Augen. Ein großer weißer Tisch mit Monitoren, einigen Geräten, deren Funktion Martin nicht erkennen konnte, einem chaotischen Kabelgewirr wie in seinem Kopf nach dem morgendlichen Aufstehen, das war alles, was er sah oder was man ihn sehen lassen wollte. Unter dem Tisch Computergehäuse, blinkende LEDs, verschiedene Schächte für CDs und andere Speichermedien. Weitere Tische, auf denen Manuskripte lagen, nicht ordentlich gebunden, nur grob geheftet. Auf dem Boden in einem Radius von fünf Metern um Jeromes Arbeitsplatz herum lagen stapelweise Bücher und Skripte auf dem Boden verteilt. Ein schmaler Gang führte aus dem Papierwald hinaus, als hätte ein Rasenmäher einen Weg geschaffen.
Martin verschränkte die Hände hinter dem Rücken und schlenderte umher. Der Rest der Etage stand leer. Abdrücke von Schreibtischbeinen und Stühlen auf dem Linoleum, Staubmäuse in den Ecken und am Rand des
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