Schattenmelodie
Zuerst sah ich meine Hände verschwinden, dann meine Füße. Sofort waren meine Hände nicht mehr so eiskalt und meine Beine fühlten sich um einiges leichter an. Trotzdem besserte sich mein Allgemeinempfinden kein bisschen. Ich fühlte mich genauso elend wie mit meinem sichtbaren Körper. Was war nur los?
Ich befand mich vor Toms Tür und hörte von drinnen ein Geräusch. War er doch schon zu Hause? Ich brauchte Hilfe!
Ich schoss jede Vorsicht in den Wind, ließ mich durch den Briefschlitz gleiten, schnellte zur Decke hoch und flog durch den Flur. Meine Bewegungen waren unkoordiniert und das verschlimmerte meine Übelkeit. Tom saß im mittleren großen Zimmer zwischen seinen Pflanzen auf dem alten Schaukelstuhl und hatte zwei Kerzen in den Fenstern brennen. Er tat nichts, schaute nur gedankenverloren vor sich hin. Ich wusste nicht mehr, wo Innen und Außen war. Ich glaubte, Toms Gedanken durch den Raum schweben zu sehen. Sie drehten sich um sein Lied. Gleichzeitig drehte sich alles in mir selbst.
‚Ich finde nicht die richtigen Worte. Ich finde sie nicht‘, jammerte Tom innerlich. Mir war kotzübel. Konnte man sich eigentlich übergeben, wenn man unsichtbar war? Ich hoffte, nicht. Mein Herz hämmerte mir in den Ohren, obwohl ich es in diesem Zustand sonst nie hämmern hörte. Ich wirbelte durch den Raum.
‚Vielleicht gibt es keine‘, antwortete ich ihm und hatte im selben Moment vergessen, was er eigentlich gedacht hatte. Tom schreckte hoch und sprang auf. Er sah irgendwas, definitiv. Ich raste den Dielen entgegen wie ein Vogel im Sturzflug. War ich dabei zu sterben und niemand konnte mir helfen?
„Ich will nicht sterben!“, rief ich, wusste nicht, ob Tom es hören konnte, und kam mit einem Rums auf den Dielen auf. Ich sah meine Hände vor mir, spürte durchdringende Schmerzen am ganzen Körper und dann kroch von allen Seiten eine undurchdringliche Schwärze heran, die mich in Windeseile erreichte und mit sich fortnahm.
Kapitel 32
Mein Name schien durch eine graue Masse zu hallen. „Neve? Neve?“
Er war nur Klang, ansonsten war alles grau um mich. „Neve!“
Jemand rief mich, und zwar mit Dringlichkeit. Angst lag in der Stimme. Ich kannte die Stimme doch … Moment … Ich kannte sie.
„Neve, wach auf!“
Wach auf? Ich schlief doch gar nicht. Das Grau schien sich zu lichten. Ein dunkler Fleck, so groß wie eine Melone, zeichnete sich in der Mitte ab. Er wurde erst dunkler, dann wieder heller, dann bekam er Konturen, zwei kleinere dunkle Flecken nebeneinander und darunter einen größeren dunklen Fleck, der sich bewegte.
„Neve, ja, versuch die Augen offenzuhalten.“
Ich blinzelte. Es war keine Melone, es war das Gesicht von Tom, das sich über mich beugte und immer näher zu kommen schien. Wollte er mich etwa küssen? Doch dann spürte ich was Kaltes an meinen Lippen.
„Hier, du musst das trinken. Aspirin. Du hast ziemlich hohes Fieber.“
Ich öffnete die Lippen und spürte, wie mir eine kalte Flüssigkeit die Kehle herunterrann. Das tat sehr gut. Ich wollte mehr und trank und trank. Dann sackte ich zurück und verlor das kühlende Glas an meinem Mund. Ich spürte den harten Dielenboden unter mir und Toms Arm hinter meinem Nacken, bevor wieder alles dunkel um mich wurde.
Als ich erneut zu mir kam, ging es mir ein bisschen besser. Ich schaute um mich. Wie es aussah, lag ich jetzt in Toms Bett.
Ich hatte überhaupt kein Zeitgefühl. Waren Stunden vergangen oder nur Minuten?
„Neve!“, rief Tom. Er saß auf der Bettkante neben mir und tippte in sein Handy. „Ich rufe einen Arzt. Wie es aussieht, hat es dich ganz schön erwischt.“
„Nein, keinen Arzt!“ Meine Stimme klang erstaunlich fest, sodass es um Toms Augen ein wenig erschrocken zuckte. „Keinen Arzt, bitte. Ich, ich hasse Ärzte …“
„Aber du bist krank, wahrscheinlich eine Infektion. Du brauchst bestimmt ein Antibiotikum. Und ich … ich … habe keine Ahnung.“
Ich registrierte, dass Toms Haare noch zerzauster waren als sonst, so als hätte er sich permanent die Haare gerauft. Er sprang auf, steckte das Handy in die Tasche, holte es wieder vor und sah mich an. In seinem Blick mischten sich Sorge und Vorwurf. Ich richtete mich ein wenig auf. Es ging einigermaßen, auch wenn sich bei jeder Bewegung alles drehte.
„Hast du so was öfter?“
Ich schüttelte den Kopf, was ziemlich anstrengend war.
„Du … musst … mich … zu Janus bringen. Okay?!“
„Janus?“
Ja, Janus. Janus konnte zur Not
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