Schattenmelodie
blieb ich ruhig, aber innerlich wuchs meine Nervosität. Ich konnte Charlie nicht einfach von der magischen Welt erzählen. Abgesehen davon, dass sie nicht der Typ dafür war, war es bei ihr auch gefährlich. Sie wollte Beweise für übersinnliche Dinge finden. Sie würde weitere Untersuchungen anstellen, und wenn ich nicht mitspielte, würde sie mir vielleicht Wissenschaftler mit weniger feinen Methoden auf den Hals hetzen. Das alles konnte ich nicht riskieren.
Andererseits: Würde ich ihr die Wahrheit erzählen, klänge es wie ein Märchen, das sie eh nicht glauben würde. Und ich wusste ja, dass sich übersinnliche Dinge nicht beweisen ließen. Das lag in der Natur der Sache. Ich staunte, dass hochintelligente Wissenschaftler es trotzdem immer wieder versuchten.
„Es sieht danach aus. Also erst mal. Natürlich sagt eine einzige Untersuchung gar nichts aus. Man braucht mehrere Testreihen, die ähnliche Ergebnisse bringen. Deswegen wollte ich dich fragen, ob du bereit wärst, mit mir ein paar dieser Testreihen zu machen.“
Nein, das war ich nicht. Charlie kramte im richtigen Moment eine neue Weinflasche mit einem Drehverschluss aus der Tasche, sodass sich ein guter Grund ergab, vom Thema abzulenken. Sie öffnete sie und ich nahm sie ihr aus der Hand.
„Hör auf Charlie, du bist schon betrunken.“
Sie bedachte mich mit einem wütenden Blick. Dann nickte sie langsam.
„Aha, verstehe. Du glaubst mir nicht, weil ich betrunken bin. Du denkst, ich erzähle irres Zeug. Du denkst, dass ich eine Meise habe. Das denkst du doch jetzt, stimmt’s?“
„Nein …“
„Ach, hör doch auf! Natürlich dengst du, dass isch nich ganz richtig ticke. Das denken doch alle.“ Jetzt lallte sie wieder ein wenig, riss mir die Flasche aus der Hand und lehnte sich so ruckartig zurück, dass sie mit dem Hinterkopf gegen die Wand prallte. Au, das musste wehgetan haben. Aber Charlie verzog keine Miene und trank von dem Wein, als wäre es Brause.
„Wer alle?“
„Na, alle eben.“ Sie knallte die Flasche auf den Boden, dass ich Sorge hatte, sie würde kaputt gehen.
„Es gibt übersinnliche Dinge und ich werde es beweisen. Das werde ich! Ich werde die Spreu vom Weizen trennen. Ich bin kurz davor.“
„Warum ist dir das so wichtig?“
„Weil mein Vater ein Idiot ist. Und weil isch ihm das beweisen werde. Darum. Jetz weis dus!“, rief sie.
Sie atmete einmal tief ein und aus. Dann sah sie mich an und gab in weitaus leiserem Ton dazu: „Tut mir leid. Ich wollte dich nich’ erschrecken. Ich benehme mich gerade völlig daneben. Ich weiß das. Mein Vater is’ ein strenger Materialist, für den das Bewusstsein nur ein zufälliges Nebenprodukt darstellt. Aber das halte ich für Schwachsinn.“
Charlie erhob sich, schwankte ein bisschen, fuchtelte mit den Armen in der Luft und sprach wieder mit fester Stimme, als würde sie vor Publikum eine Rede halten.
„Ich will ihm beweisen, dass es mehr gibt als nur das, was man anfassen oder sehen kann. Ich werde ihm beweisen, dass man Kindern nicht das Märchenbücherlesen verbieten sollte. Menschen brauchen mehr als die Gewissheit, dass die Welt aus Atomen besteht. Er vielleicht nicht, er ist eh gefühlsamputiert. Aber deshalb müssen das nicht alle anderen Menschen auch werden.“
Sofort musste ich an Toms Probleme mit seinem Vater denken. Da hatten sie also etwas Wesentliches gemeinsam. Nur während Tom sich verbarrikadierte und aus seiner Leidenschaft ein Geheimnis machte, ging Charlie in die Offensive.
„Man kann das nicht beweisen.“
„Was?“
„Na, Dinge, die eben nicht beweisbar sind.“
„So einen Blödsinn hat mir schon mal jemand erzählt. Aber das werden wir noch sehen.“
Charlie griff wieder nach der Flasche und trank sie in einem Zug aus, sodass mir schon vom Zusehen schlecht wurde. Dabei spürte ich die Leere meines Magens so stark, dass mir tatsächlich übel wurde. Ich musste dringend etwas essen. Gleichzeitig wurde mir klar: Charlie brauchte meine Hilfe.
Ich musste ihr klarmachen, dass das, was sie suchte, nicht beweisbar war. Aber vor allem, dass es darauf gar nicht ankam. Weil es ihr nämlich in Wirklichkeit nicht um Beweise ging, sondern darum, jemand anders etwas zu beweisen. Das musste sie aber nicht. Schon gar nicht ihrem Vater. Sie war erwachsen. Sie konnte ihr Leben leben und die Welt so sehen, wie sie es wollte.
„Wie viele Märchenbücher hast du inzwischen gelesen, ich meine, seit du nicht mehr zu Hause wohnst?“
Charlie sah mich kurz
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