Schattenmelodie
augenscheinlich wichtig gewesen war.
„Meinst du, du bist bereits wieder in der Lage, Jerome in seine Träume zu folgen?“
„Ich weiß nicht. Doktor Labot hat mir so ein rotes Rindenpulver gegeben, zur Stärkung meiner geistigen Fähigkeiten. Ich müsste es einfach probieren.“
Wir schlossen leise meine Zimmertür und schlichen über den schwach beleuchteten Flur. Ranja hatte ihren verdächtigen Zauberbesen wieder verstaut und wirkte in dem fahlen Licht wie eine ganz normale Frau. Ich sah sie zum ersten Mal nicht in ihren bunten Röcken, sondern schlicht gekleidet in Jeans und Pullover.
„Aber hat Kim nicht …“
„Ja, Kim hat es versucht. Aber sie hatte keinen Erfolg. Ich denke, sie weiß zu wenig über das Haus und die Umstände.“
Wir betraten ein Zimmer am Ende des Flurs. Abgestandene Luft schlug uns entgegen. Der Raum war klein und hatte nur ein Bett unter dem Fenster.
„Hier behandelt Doktor Labot die chronischen Fälle. Meist schafft er es, das Zimmer dafür freizuhalten. Zum Glück ist die Station so gut wie in seiner Hand.“
Jerome lag schweißgebadet auf dem Rücken und stöhnte hin und wieder, aber er schien zu schlafen.
Ranja bedachte ihn mit einem seltsamen Blick. Mir fiel ein, dass sie mit ihm vor langer Zeit einmal zusammen gewesen war. Was sie jetzt wohl fühlte? Enttäuschung, Kummer, Wut oder auch noch ein wenig Bedauern? Ich wagte es nicht, in den Gefühlen eines Ratsmitgliedes zu stöbern, um das herauszufinden. Stattdessen versuchte ich, mich auf Jerome zu konzentrieren, obwohl es mir sehr unangenehm war, mich in sein Innenleben einzuklinken.
„Du musst wissen, dass wir zu Dr. Haruto Tanaka Nachforschungen angestellt haben. Er besitzt keinerlei magische Fähigkeiten und er scheint auch keinerlei Ahnung von der magischen Welt zu haben. Sulannia und Kim vertreten bereits den Standpunkt, dass Jeromes Haruto und der Besitzer von Wetterplatz 8 nichts miteinander zu tun haben. Marco wiederum glaubt nicht an einen Zufall, weil das Haus einen magischen Durchgang besitzt, und der misstrauische Jolly erst recht nicht. Irgendeinen Zusammenhang muss es geben, und mein Bauch sagt mir dasselbe, auch wenn ich keinen Schimmer habe, welchen.“
„Hat Sulannia den Durchgang gefunden?“
„Ja, ein Ziegelstein in einer der Ziegelmauern im versunkenen Teil des Kellers war nur eine Illusion. Die Katze ist einfach hindurchgeschwommen. Ohne die Katze hätte Sulannia wohl ewig nach diesem gut getarnten Schlupfloch suchen müssen.“
„Und was kam danach?“
„Genau das, was Grete beschrieben hat. Sulannia glitt durch eine im Durchmesser vielleicht drei Meter breite durchsichtige Ader und sah um sich herum eine gleißend goldene Stadt, ähnlich wie Dubai, nur noch großzügiger, und der Wüstensand war nicht goldbraun und die Wolkenkratzer weiß, sondern umgekehrt, die Häuser leuchteten golden und der Wüstensand war schneeweiß.“
„Hat sie sich die Stadt angesehen?“
„Nein, es gab keinerlei Möglichkeit, die Ader zu verlassen, bevor sie in die Quelle mündet, an der du Grete gefunden hast. Es ist immer noch unklar, ob die Stadt eine Illusion ist oder ob es sie wirklich gibt. Auch die Undinen suchen immer noch vergeblich nach einer Verbindung der magischen Gewässer zu dieser Ader.“
Das klang alles besorgniserregend und interessant zugleich, aber jetzt musste ich mich auf Jerome konzentrieren. Ich betrachtete sein Gesicht. Er sah älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte, was jedoch auch an seinem derzeitigen Zustand liegen konnte. Seine Haare trug er inzwischen schulterlang. Feucht und wirr lagen ihm einige Strähnen über der Stirn. Sein Geruch stieg mir unangenehm in die Nase, nach Schweiß und irgendwie nach nass gewordenem Filz. Ich stellte mich an das Kopfende und beugte mich zu ihm herunter.
„Ich lasse euch einen Moment allein, damit du dich besser konzentrieren kannst“, flüsterte Ranja und schloss leise die Tür.
Ich hielt mir die Nase zu und beugte mich noch ein wenig weiter herunter.
Wirre Bilder rasten durch Jeromes Kopf. Eine kleine Küche und ein karges Zimmer, Leo tauchte auf und mir fiel ein, dass Leo seine Ausbildung in der magischen Welt abgeschlossen hatte und sich um ihn kümmerte. Ich spürte, dass Jerome Leo liebte wie einen Sohn, er schien alles zu sein, was er noch hatte. Dann eine Grotte und magische Leute, die dem Geheimbund angehört hatten, dann sogar die Akademie, Kira, und dann wieder diese karge Küche – alles ein wirres Gemisch aus seinem
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