Schattenmelodie
Antiquariat offen auf den Gehweg gestellt. Im Durchgang des Vorderhauses nahm ich wieder Gestalt an und spähte in den Hinterhof. Vielleicht konnte ich ihn ja durch die Scheiben des Ladens sehen?
Mein Herz schlug vor Aufregung bis zum Hals. Und wenn er doch nicht … Nein, jetzt nur keine Zweifel. Mein Magen gab ein grummelndes Geräusch von sich. Ich hatte Hunger. Und was für einen! Spontan drehte ich um, und lief wieder auf die Straße. Gute Ausrede. Ergriff ich etwa die Flucht? Nein, mit etwas zu essen in der Hand würde es bestimmt leichter sein.
Zehn Minuten später stand ich mit zwei gefüllten Teigtaschen in der Hand wieder im Durchgang und atmete ihren Duft ein. Okay, dann los jetzt.
Ich lief über den Hof und betrat das Antiquariat. Janus schrieb etwas hinter der Kasse und sah auf, als er die Türglocke hörte.
Sein Blick ging mir durch Mark und Bein. Man kann sich eine Begegnung in den schönsten Farben ausmalen. Aber man macht die Rechnung immer ohne die Energie, die einem von der anderen Seite entgegenschlägt und die die ganze Situation zu mindestens fünfzig Prozent mitbestimmt. Wie er mich ansah, verhieß nichts Gutes und löste aus, dass ich am liebsten auf der Stelle umgedreht wäre, um das Weite zu suchen.
„Mittagessen“, rief ich und klang dabei kläglich, obwohl ich doch fröhlich klingen wollte.
Janus blickte ernst drein und antwortete reserviert. „Das ist sehr freundlich, aber ich habe schon gegessen.“
„Sie sind mit Spinat und Feta gefüllt, ich dachte …“
Er kam hinter der Kasse hervor und auf mich zu. „Nein, nein, das macht nichts. Dann esse ich sie eben zum Abendbrot.“
Er nahm mir eine Teigtasche ab und schaute mich dabei nicht an. Er wirkte so weit weg wie noch nie. Ich sah ihm nach, wie er zur Küche lief. Er trug seine Filzpantoffeln und einen Pullover aus Naturwolle. Seine Locken hatte er mit einem roten Gummi zu einem Zopf im Nacken zusammengebunden.
„Möchtest du einen Teller?“, fragte er.
„Nein, danke, es geht ohne. Ich wollte nur kurz reinschauen und Hallo sagen und …“ Ich brach den Satz ab und biss in meine Teigtasche.
Meine Euphorie war komplett verflogen. Stattdessen fühlte ich mich vernichtet, als wäre mein Glücksgefühl der letzten Stunden nur ein Aufflackern vor dem endgültigen Tod gewesen. Die Teigtasche schmeckte, aber ich hasste auf einmal ihren Geschmack und hätte das abgebissene Stück am liebsten wieder ausgespuckt.
„Und, wie geht es dir? Alles wieder in Ordnung?“, fragte er, so wie man eine Nachbarin, die man im Hausflur trifft, aber sonst nicht näher kennt, fragen würde.
„Danke. Es ist alles wieder in Ordnung“, antwortete ich genauso neutral. Eigentlich wollte ich ihm alles von Jerome erzählen und was sich in der Nacht ereignet hatte, aber ich hielt meinen Mund.
„Na, dann ist ja … alles in Ordnung“, wiederholte Janus meine und seine Worte und rieb sich die Hände.
Ich hatte plötzlich den Eindruck, ihn bei der Arbeit zu stören. Was war denn nur los? Was war diese unsichtbare Mauer zwischen uns? War er so sauer? Aber er wirkte nicht mal mehr sauer, sondern einfach nur desinteressiert, und das war schlimmer als alles andere. Ich biss ein neues, ziemlich großes Stück ab und kaute eifrig darauf herum, damit mir nicht die Tränen kamen.
„Ich störe dich bei der Arbeit, oder …“
„Nun ja, ich habe tatsächlich einiges zu tun. Die Steuer für das letzte Quartal muss angegangen werden.“
„Okay, dann werde ich mal …“
Ich wartete, dass Janus mich unterbrach, mir noch mal einen Teller anbot. Überhaupt, warum sagte er nicht, wie es ihm gefiel, dass ich eine riesige Teigtasche aß? War ihm das inzwischen wirklich egal? Janus stand einfach nur vor mir und sah mich an. Seine Augen wirkten so neutral. Oder war da doch ein bisschen Traurigkeit? Ich konnte es nicht einschätzen.
Mir war auf einmal schlecht. Wenn ich jetzt ging, dann brauchte ich bestimmt nicht mehr wiederkommen. Hatte ihn meine Aktion mit Charlie so enttäuscht, dass er jetzt gar nichts mehr für mich empfand? Keine Zuneigung, keine Freundschaft, nichts?
„Wie geht es Charlie?“, fragte ich, nur um irgendetwas zu sagen, das nicht bedeutete, ich würde gleich gehen. Sofort nahm sein Gesicht einen völlig entnervten Ausdruck an und ich biss mir auf die Lippen. Ich wusste, dass es die blödeste Frage war, die mir einfallen konnte. Ich spürte es mit jeder Faser meines Körpers. In dem Augenblick war ich mir sicher, dass Janus komplett
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