Schattenmelodie
auf Seite zehn und jetzt bin ich durch“, behauptete er und lächelte. „Wie geht es dir?“
„Gut“, sagte ich. Das Sprechen fiel mir nicht mehr schwer. Ich richtete mich ein wenig in meinem Bett auf. Meine Muskeln taten alle weh, als hätte ich einen Ozean durchschwommen, aber es ging. Die Kanülen waren aus meinen Handrücken verschwunden. Stattdessen klebten links und rechts kleine Pflaster auf den Einstichstellen. Es piepten auch keine Apparate mehr im Zimmer.
„Warst du die ganze Zeit hier?“, fragte ich.
Janus nickte. „Fast.“
„Warum?“, fragte ich.
„Warum?“ Die Frage schien ihm nicht zu gefallen. „Wäre dir jemand anders lieber gewesen?“
„Oh … nein, Entschuldigung. Ich meinte nur, ich …“
Jetzt saß ich vollständig im Bett und staunte, wie fit ich mich fühlte. Ich spürte meine Muskeln nur bei der ersten Bewegung. Bei jeder weiteren Bewegung verschwanden die Schmerzen. Auf einmal kam es mir seltsam vor, am helllichten Tag im Bett zu liegen. Ich fühlte mich, als könnte ich aufspringen und Bäume ausreißen.
„Ich … hui, mir geht es richtig gut!“, unterbrach ich mich selbst und staunte.
„Doktor Labot hat gesagt, sobald du aufwachst, kannst du am nächsten Tag entlassen werden.“
„Ich meinte nur, warum bin ich hier?“, nahm ich den Faden wieder auf.
„Das weißt du nicht?“
„Doch, nein … also … ich hätte nicht gedacht, dass Charlie dich holt. Ich weiß nicht, irgendwie hätte ich das nicht gedacht, aber sie hat keinen Arzt gerufen, sondern dich … Das hat sie.“
Janus beobachtete mich mit seinen dunklen Augen und ich bekam den Eindruck, dass sie fast schwarz wurden, während er mich jetzt sehr ernst ansah.
„Warum hast du das getan?“, fragte er und ich spürte, wie er versuchte, Wut zu unterdrücken und ganz ruhig und neutral zu bleiben.
„Es war meine Aufgabe.“
„Deine Aufgabe?“ Jetzt klang Janus ganz offensichtlich wütend. „Deine Aufgabe?“, wiederholte er, als wäre ich ein begriffsstutziges Kind, das einfach überhaupt nicht kapierte, was es zu tun und zu lassen hatte.
„Ja. Ich musste Charlie das mit der Nichtbeweisbarkeit beweisen.“
„Aber du hast dich dafür in Lebensgefahr begeben! Meine Güte, du wärst beinahe … gestorben.“ Das letzte Wort flüsterte er und seine Stimme vibrierte.
Ich spürte eine leichte Gänsehaut und wusste nicht genau, wovon sie kam: weil mir wegen der Erkenntnis schauderte, dass ich mein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, oder weil in Janus’ Tonfall unverkennbar mitschwang, wie viel es ihm ausgemacht hätte, wenn ich nicht überlebt hätte?
„Ich habe keine Angst, weder vor dem Leben noch vor dem Tod“, behauptete ich trotzig und merkte, wie mir dabei der nächste kalte Schauer über den Rücken jagte.
„Wolltest du Charlie etwas beweisen oder wolltest du mir etwas beweisen? Meine Güte, Neve!“
„Wieso dir? Nein!“, rief ich aufgebracht und wusste im selben Moment, dass er natürlich recht hatte. Janus war aufgesprungen und stützte die Arme auf das Fußende meines Bettes. Auf einmal war es mir unangenehm, dass ich, nur mit einem dünnen Krankenhaushemd bekleidet, vor ihm saß. Unwillkürlich zog ich mir die Decke höher und presste sie mir vor die Brust.
Janus seufzte.
„Ich wünschte …“, fing er an, aber machte dann eine resignierte Bewegung, sah zur Zimmerdecke hoch und dann wieder mich an. „Warum müssen wir uns eigentlich immer gleich streiten?“
„Keine Ahnung. Du hast angefangen“, antwortete ich schulterzuckend und sah aus dem Fenster.
Janus sagte nichts und ich sagte auch nichts. Schweigend schauten wir aneinander vorbei, und auf einmal dachte ich, dass ich ihn am liebsten umarmen wollte. Dass ich glücklich war zu leben. Dass ich glücklich war, in seiner Nähe zu sein, auch wenn wir uns in diesem Krankenzimmer befanden. Aber ich unternahm nichts. Ich konnte irgendwie nicht.
Stattdessen fragte ich: „Wie geht es Charlie?“
„Ich weiß es nicht. Das war nicht das, was mich die letzten Tage interessiert hat. Das letzte Mal habe ich sie im Labor gesehen, als der Rat Erde, Feuer, Wasser, Rauch und metaphysische Energien spie, damit du überlebst. Dabei machte sie ein Gesicht, als würde sie gleich einen Schock erleiden.“
Sein zweiter Satz machte mich froh, aber wieder ging ich nicht darauf ein, sondern erkundigte mich weiter nach Charlie.
„Aber jemand muss sich doch um sie gekümmert haben.“
„Ranja hat die 112 gerufen und einen Krankenwagen
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