Schattenmelodie
etwas Neues überlegen. Tom war kurz vor dem Ertrinken. Gleich würde er hochschrecken und wach sein. Es gelang mir, ihn von einer starken Welle auf den Strand werfen zu lassen. Das war unsanft, aber die Idee war mir noch rechtzeitig gekommen. Eine Weile lag er leblos da, aber immerhin wachte er nicht auf.
Auf einmal war es still, das Meer in seinem Traum hatte sich nicht beruhigt, sondern war plötzlich nicht mehr vorhanden. Tom regte sich im Sand. Ich hatte in seiner Nähe den magischen Wald erstehen lassen, durch den die klingenden Blüten schwebten. Mit einer freundlichen Gestalt am Waldrand, die ihn zu sich rief, versuchte ich ihn hinzulocken.
Tom richtete sich auf und begann auf die Gestalt zuzugehen. Er erreichte die ersten Bäume. Einzelne Blüten schwebten auf ihn hinab. Doch ehe er ihr leises Singen wahrnehmen konnte, wurde es von einem unmenschlichen Brüllen übertönt. Die Gestalt verwandelte sich in ein Monster. Es erinnerte mich an einen Uruk aus dem Herrn der Ringe. Mit einer schleimigen Eihaut bedeckt werden Uruks aus der Erde geboren und töten mit bloßen Händen, was ihnen zu nahe kommt.
Tom rannte davon, doch nicht zurück zum Strand, sondern tiefer hinein in den Wald. Die Bäume blühten nicht, sondern waren schwarz und kahl und brannten teilweise.
Der Uruk verfolgte ihn und erfüllte die Szenerie mit seinem markerschütternden Gebrüll. Plötzlich loderten haushohe Flammen vor Tom auf und der Uruk hatte ihn gleich eingeholt. Mit einem Schrei, der in der Wirklichkeit nur als gequältes Stöhnen über seine Lippen kam, schreckte Tom hoch, und ich verlor von der Wucht des Albtraumes die Balance und kippte aus der Hocke nach hinten.
Tom saß jetzt in seinem Bett und sah sich im Zimmer um. Ich konzentrierte mich mit jeder Faser, auf keinen Fall sichtbar zu werden. Er seufzte, legte sich wieder hin, zog seine Bettdecke hoch bis über die Schulter, drehte sich zur Wand und versuchte weiterzuschlafen. Jetzt sah ich nur noch seinen dunkelblonden Haarschopf auf dem Kissen. Okay, meine Kräfte waren aufgebraucht für heute. Gegen solche Träume hatte ich keinerlei Chance.
Ich verließ das Zimmer und begann schon im Flur sichtbar zu werden. Ich konnte nichts dagegen machen. Leise bewegte ich mich zur Wohnungstür. Sie war abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte. Ich drehte ihn unendlich langsam im Schloss, damit Tom es nicht hören konnte. Es rasselte und quietschte ein bisschen. Ich hörte, wie Tom sich in seinem Bett drehte, öffnete eilig die Tür, zog sie hinter mir zu, lief die Stufen zum Dachboden hinauf, hielt auf dem letzten Treppenabsatz inne und lauschte. Nichts. Tom schien nichts gehört zu haben. Sicher würde er sich später wundern, dass er die Tür nicht abgeschlossen hatte.
Dafür vernahm ich auf einmal schwere Schritte unten im Treppenhaus. Es mussten zwei Männer sein. Sie stiegen hinauf bis in die zweite Etage. Ihrem tiefen Gebrabbel ließ sich entnehmen, dass sie nach einem bestimmten Namen suchten: „Hell. Hier steht’s ja.“
Was wollten sie von Gretes Familie? Sie hämmerten nicht gerade sanft gegen die Wohnungstür.
Ich schlich mich wieder die Treppen hinunter und spähte durch die Holzstäbe des Geländers. Es waren Polizisten. Weil sich hinter der Tür nichts rührte, hieben sie noch einmal dagegen.
Einen Moment später öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ich hörte die Kette rasseln, die von innen eingehängt war.
Dann die Stimme von Gretes Mutter: „Hallo?“
„Sind Sie Emma Hell?“
„Ja?“
„Wahrscheinlich sind Sie informiert worden, dass wir hier sind, um Ihre Tochter Grete zur Schule abzuholen. Es besteht Schulpflicht nach Paragraph …“
„Grete ist heute früh zur Schule gegangen“, unterbrach Emma den Polizisten, der seinen Satz routiniert aufsagen wollte.
„Da liegen uns leider andere Informationen vor, Frau Hell. Dürften wir bitte …?“ Er drückte ein wenig gegen die Tür.
„Sie wollen in meine Wohnung?“ In Emmas Stimme schwang leichtes Entsetzen mit. Ich vernahm Schritte hinter ihr. Dann tauchte Viktor auf, der Emma beiseite schob, die Kette entfernte und die Tür öffnete.
„Sie ist heute früh zur Schule gegangen. Sie können sich gern davon überzeugen.“
Einer der Polizisten trat ein. Der zweite blieb vor der Tür stehen. Grete schwänzte also die Schule und das Jugendamt hatte bereits die Polizei eingeschaltet.
Wenige Minuten später kam der Polizist wieder zum Vorschein. Er schüttelte leicht den Kopf, um dem anderen zu
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