Schattenmelodie
Welt.
Heute Morgen hatte ich ihr einen Bananen-Kakao-Shake hingestellt und ihr gesagt, dass ich nach Berlin aufbrechen würde. Aber ich fand keine Kraft, mich tatsächlich auf den Weg zu Tom und Grete zu machen und war stattdessen hierher, an meinen geheimen Ort gegangen.
Ich musste darüber nachdenken, was mit mir passiert war, und was ich nun tun sollte. Zwei Dinge ließen mir überhaupt keine Ruhe und ich wusste nicht, welches von beiden schlimmer war. Wahrscheinlich war einfach beides gleich schrecklich.
Erstens: Ich hatte geweint! Richtige Tränen. Das war seit sieben Jahren nicht mehr vorgekommen, denn jemand, der eine Art Engel ist, so wie ich, hat gar keine Tränen.
Und zweitens: Ich hatte Kira von meiner Vergangenheit erzählt. Dabei war alles wieder hochgekommen: das Verschwinden meines Vaters, der unerwartete Tod meiner Großmutter und wie ich wochenlang herumgeirrt war, um ihr in den Himmel zu folgen und dann den Durchgang in die magische Welt gefunden hatte. All die Dinge, an die ich eigentlich nie wieder erinnert werden wollte. Und natürlich hing beides zusammen.
Es fiel mir schwer, Kira nicht die ganze Schuld an meiner Krise zu geben. Kira war nach der Flucht aus dem Grünen Raum, dem Drama mit ihren Eltern und der Sache mit Tim und Minchin einfach völlig am Ende mit den Nerven gewesen. Es war nur allzu verständlich, dass sie ausgeflippt war.
Wieder sah ich vor mir, wie wir im Gästeklo ihrer Loft-Wohnung am Wasserturm kauerten, nachdem Kira mit Atropa in die Realwelt geflohen war und Jerome und der magische Rat sie suchten. Ich hatte hier auf sie gewartet, um sie zu warnen. Ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt und sie überschüttete mich mit schlimmen Vorwürfen: dass ihr mein Engelgetue auf den Wecker ginge, obwohl ich auch nur ein magisch begabter Mensch wäre. Dass ich sie von Leo und Tim fernhalten würde, weil ich mich selbst nicht verlieben könnte. Und warum ich nie etwas von meinen Eltern erzählte, ob die mir peinlich wären. Nein, das waren sie natürlich nicht, aber … Ach … Liebe, Schmerzen, Tränen, Blut, Tod – Das alles machte mir einfach furchtbare Angst!
Unwillkürlich sprang ich auf, trat durch die hauchdünne Membran meiner lichtdurchfluteten Behausung auf die Wiese und begann den Hügel hinunterzulaufen, immer schneller und schneller, mit nackten Füßen durch das saftige Gras und die bunten Blumen, es war ein befreiendes Gefühl – als würde ich so alle störenden Ängste hinter mir lassen können.
Ich ließ mich ins Gras fallen und schaute in den tiefblauen Himmel. Und dann wusste ich wieder, wie mein Leben weitergehen sollte: Kira hatte später ihre Worte bereut und ich hatte ihr verziehen. Wir waren Freundinnen.
Jetzt hieß es, wieder nach vorne zu schauen, die Tür zur allem, was vergangen war, mit einem deutlichen Wumm zufallen lassen. Genau wie Kira brauchte auch ich erst mal ein bisschen Ruhe. Und das bedeutete, das Haus am Wetterplatz war einfach zu viel für mich.
Tom kam ohne mich klar, egal, ob er seine Komposition früher oder später beendete. Irgendwann würde es ihm schon gelingen. Und Grete würde ich übergeben. Am besten an Kim. Kim vertrat im Rat das Element Äther und war gut darin, was solche Fälle anging. Das musste man ihr lassen, unabhängig davon, dass ich sie sonst nicht sonderlich mochte. Sie würde mein dummes Versprechen Grete gegenüber schon irgendwie hinbiegen, auch wenn ich mir eine Rüge einfangen musste, dass ich überhaupt so ein Versprechen gegeben hatte. Bestimmt würde Grete bei ihr sogar in besseren Händen sein.
Kapitel 11
Ich verbrachte eine arbeitsame Nacht in meinem Turmhaus, schrieb an meinem Buchprojekt und versuchte mir die ganze Zeit einzureden, es gäbe hoffentlich nicht schon wieder einen Grund, sich Sorgen um Kira zu machen. Sie war erneut die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen.
Jetzt kam es mir noch absurder vor, dass ich mir tatsächlich so etwas wie das Haus am Wetterplatz 8 aufladen wollte. Mit Kira war ich einfach rundum ausgelastet.
Ich zuckte zusammen, als es unten an der Tür klopfte. Das Klopfen klang fremd, nicht wie von jemandem, der schon öfter hier gewesen ist. Ich schob den Riegel zurück und öffnete.
„Das Kleid steht dir!“, begrüßte Tim mich und lächelte.
Ich sah ihn verdattert an.
Tim? Wieso war Tim plötzlich hier? Er lebte doch in der realen Welt, zusammen mit Minchin, die ihn dazu gezwungen hatte.
In seinen Shorts und dem weißen T-Shirt sah er
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