Schattenmelodie
übermütig herum. Und plötzlich sah ich nicht mehr Tim vor mir, der Kira im Arm hielt, sondern Tom, wie er mich in die Arme nahm, hochhob und herumwirbelte – und bekam einen fürchterlichen Schreck.
Ich riss mich aus meinem festgeklebten Zustand los und stolperte hinaus. Hinter meinen Augen spürte ich einen unheimlichen Druck, so wie als Kind, kurz bevor ich losweinen würde. Aber Engel weinten nicht. NEIN. Niemals wieder! Ich holte mehrmals tief Luft, was ich sonst auch nicht tat, aber es war weniger bedrohlich als Weinen. Meine Atmung als Engel war flach und im unsichtbaren Zustand brauchte ich sie überhaupt nicht.
Puh, der Druck hinter den Augen verschwand allmählich wieder. Zurück blieb jedoch eine unerklärliche Sehnsucht – nach etwas, was ich doch gar nicht haben wollte! Nach Liebe? Nach Liebe, die irgendwann immer wehtat? Bloß nicht! Nach Tomaso, dem Pianisten? So ein Quatsch!
Ich lief vor dem Dom auf und ab wie in einem Gefängnis und schüttelte mich. Das war eben ein herzzerreißender Moment mit Tim und Kira gewesen, okay. Aber der war nur das Ergebnis von einer langen und aufreibenden Geschichte, die vorher stattgefunden hatte. Und das Leben war auch nicht wie im Film, wo das Happy End am Ende stand und der Zuschauer der Illusion verfiel, nun würden alle ewig glücklich bleiben. Das wusste ich. Und deshalb wollte ich so was alles gar nicht haben, schon gar nicht mit Tomaso.
Sofort dachte ich an sein Alter Ego Tom, den gut gebauten Barkeeper mit dem schwarzen Muskelshirt hinter der Theke, und musste schmunzeln. So einer passte ja nun wirklich nicht zu mir.
Am liebsten hätte ich Kiras Lieblingsort sofort verlassen. Aber das konnte ich nicht tun. Ich musste warten, wie es zwischen Kira und Tim weiterging. Nicht, dass sie wieder etwas anstellten. Ich setzte mich auf die Bank vor dem Dom und wandte eine Meditationstechnik an, um meinen Kopf leer zu bekommen.
Irgendwann bemerkte ich Kiras Hände auf meinen. Sie hockte vor mir und sah mich an. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie sie und Tim aus dem Dom gekommen waren.
„Entschuldige bitte, wegen vorhin. Es ist immer dasselbe mit mir: Ich muss endlich aufhören, daran zu zweifeln, dass du mein Glücksengel bist und immer das Richtige tust“, sagte sie.
Ich sah von Kira zu Tim. Sie hatten sich versöhnt. Jetzt kam es mir absurd vor, dass ich vorhin Tom in Tim gesehen hatte.
Glücksengel – ich lächelte. Ja, genau das wollte ich sein, und nichts sonst.
Kapitel 12
„Schon komisch, dass jetzt alles gut ist zwischen Tim und mir, wir uns aber bis zum Sommer nicht sehen werden“, bemerkte Kira.
Tim hatte vom Rat die Erlaubnis erhalten, Kira im Sommer in der magischen Welt zu besuchen, aber bis dahin musste sie erst ihre Ausbildung an der magischen Akademie absolviert haben. Kira stocherte nachdenklich in ihrem Rührei herum, das sie sich zum Frühstück gemacht hatte. Ich starrte auf die mit grünem Schnittlauch versetzten gelben Eistückchen und spürte einen leichten Widerwillen, etwas Essbares überhaupt nur anzuschauen.
„Komisches Gefühl, glücklich und unglücklich zugleich zu sein“, fuhr sie fort und aß langsam weiter. Ich wartete, dass sie fertig wurde. Dann wollte ich sofort zu Kim und ihr mein Anliegen in Bezug auf Grete vorbringen.
Kira sah mich an: „Hörst du mir eigentlich zu?“
„Natürlich!“ Ich lächelte sie an, um zu überspielen, dass ich in Wirklichkeit zu sehr mit meinen eigenen Entscheidungen beschäftigt war. „Ich kann dich verstehen …“, schob ich hinterher, um etwas zu sagen, aber Kira unterbrach mich.
„Kennst du das Gefühl?“
„Hm … also … ich glaube …“
„Wie war es eigentlich letztens bei deinem Komponisten?“, fragte sie plötzlich.
„Letztens? Wann letztens?“ Im selben Moment fiel mir ein, dass ich ihr gesagt hatte, ich würde in die Stadt gehen, es aber gar nicht getan hatte.
„Du wolltest mir sogar ein Tagebuch mitbringen.“ Sie lächelte.
„Ach so, ja … also …“
Kira zog fragend eine Augenbraue hoch.
„Ich bin letztens gar nicht dort gewesen. Aber sobald ich wieder hinfliege, bring ich dir eins mit.“
Jetzt musterte sie mich misstrauisch. Na klar, sie hatte ja gedacht, ich wäre in den Komponisten verknallt, und nun flog ich gar nicht hin. Sie musste also einsehen, dass sie falsch gelegen hatte.
„Wo warst du denn dann?“, fragte sie.
„Oh … an meinem liebsten Ort.“
Ihre Augen weiteten sich. „Du hast einen Lieblingsort? Davon hast
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