Schattenmelodie
Sieben Jahre lang hatte ich mich in dieser Hinsicht für niemanden interessiert und war inzwischen so sicher gewesen, dass es mir nun auch nicht mehr passieren würde. Ich war in der Zeit ein halber Engel geworden.
Doch plötzlich dachte ich an einen Mann, rutschte sein Bild immer wieder vor mein inneres Auge. Wenn ich ehrlich war, verging seit meiner Tomaso-Fantasie in Kiras Miniatur-Dom keine Stunde, in der ich nicht an Tomaso dachte und ihn vor mir sah: an seinem Piano, auf der alten Matratze im schalldichten Raum, in seinem schmalen Bett in der Küche, wo er so friedlich dagelegen hatte … Und selbst Tom hinter der Theke kam mir immer wieder in den Sinn. Ich fand diese Art Männer – das musste ich mir jetzt eingestehen – in Wirklichkeit gar nicht blöd, ich hatte nur viel zu viel Respekt vor ihnen.
Ich holte tief Luft, viel zu tief. Der Druck hinter den Augen ließ nach. Dann nahm ich die Hände vom Gesicht und sah Kira an.
„Ja, du hast recht. Ich muss viel zu oft an ihn denken, und genau das ist der Grund, warum ich das Haus am Wetterplatz nicht mehr besuchen werde.“
„Aber was ist denn so schlimm daran, immerzu an jemanden zu denken?“, fragte Kira.
„Ich finde …“, ich machte eine hilflose Geste mit den Armen, „… dass es nicht zu mir passt.“
„Nicht zu dir passt?“ Kira lachte auf. „Zu jedem passt das!“
Ich stand auf und ging zum Fenster, um mir ein bisschen Freiraum zu schaffen. „Aber nicht zu einem Engel.“
Kira seufzte.
„Neve, du bist doch … du hast doch selbst gesagt, dass …“
Beherzt griff ich nach Kiras Hand und legte sie auf meinen Brustkorb, sodass ihr Handballen auf meinem Brustbein zum Liegen kam und ihre Finger rechts und links von meinem Hals. „Was spürst du?“
Kira sah mich verwirrt an. „Ähm, was soll ich spüren?“
„Was spürst du?“
„Kühle. Deine Haut ist ganz kühl … und so ein leichtes Vibrieren.“
„Aber keinen Puls, nicht wahr – nur ein Vibrieren.“
Kira zog ihre Hand zurück und wirkte fast ängstlich. „Das heißt, du hast gar keinen Herzschlag mehr?“
„Wozu? Ich bin ein Engel. Nicht so, wie die Elementarwesen des Äthers. Ich bin auch noch ein Mensch, aber eben nicht mehr viel, verstehst du?!“
„Dann fällt das Herzrasen weg, wenn man verliebt ist, das ist doch eine Erleichterung“, platzte es aus Kira heraus.
Ich musste lächeln, das stimmte allerdings. Kira lächelte auch erleichtert, atmete hörbar aus und wieder ein, ich hatte sie ein wenig geschockt. Wie es aussah, hatte sie noch nie weiter darüber nachgedacht, dass es Folgen für den Organismus hatte, wenn man nichts mehr aß und nichts mehr trank.
„Oh Mann, das ist … heißt das, du darfst dich nicht verlieben, weil …“ Sie führte jetzt ihre Hand an ihren eigenen Halsansatz, sodass die Handfläche auf dem Brustkorb und Daumen und Zeigefinger links und rechts auf dem Schlüsselbein lagen.
„Doch, natürlich ‚darf‘ ich, aber ich will nicht. Alles soll bleiben, wie es ist, so, wie die letzten sieben Jahre.“
Kira durchbohrte mich fast mit ihrem Blick, um zu kapieren, was ich meinte. „Du willst, dass dein Herz nicht wieder anfängt zu schlagen?“ Ihre Frage klang durch und durch ungläubig.
„Ja, so ungefähr“, gab ich zu. „Ich hab das nicht unbedingt genossen, ein richtiger Mensch zu sein, verstehst du.“
„Noch nie?“
„Na ja, früher vielleicht, als kleines Kind …“
Stopp, da waren sie wieder: Erinnerungen. Da wollte ich nicht hin. Ich machte eine abwehrende Geste, als könnte ich die Worte, die in der Luft hingen, wegwedeln. Wir schwiegen einige Momente.
Dann sagte Kira: „Neve, weißt du was!“
Ich schüttelte den Kopf. Was würde jetzt kommen?
„Du hast zwar ein paar menschliche Züge abgelegt, aber du bist weder ein Elementarwesen noch tot, und man kann dem Leben nicht ausweichen. Du hast Tomaso getroffen, und das ist nicht mehr rückgängig zu machen. Jemand hat dein Herz berührt, auch wenn es nicht mehr schlägt. Du kannst dich jetzt abwenden, aber eins ist sicher: Wenn es einmal passiert ist, dann wird es wieder passieren. Verstehst du, was ich meine?!“
Ich verstand sehr wohl, was sie meinte, so gut, dass ich unwillkürlich die Arme um meinen Körper schlang, als müsste ich mich festhalten.
„Du solltest jetzt nicht wegrennen. Denk daran, wie oft ich weggerannt bin und wie wenig mir das genützt hat. Im Gegenteil, es hat alles immer nur schlimmer gemacht.“
Oh je, das war zu wahr. Ich
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