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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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Engel spürte ich zwar keine Kälte und keine Hitze und trug am liebsten meine leichten Sommerkleider, aber wenn ich in der Realwelt einkaufen ging und vorhatte, sichtbar zu sein, dann würde das bei den Temperaturen einen seltsamen Eindruck machen.
    In meinem Portemonnaie befanden sich nur noch fünfzig Euro. Ich brauchte neues Geld. Meine Bankkarte trug das Motiv des magischen Waldes mit den weißen Blüten. Niemand in der Realwelt würde sie für eine Bankkarte halten, trotzdem konnte ich mich damit an allen Bankautomaten der Stadt bedienen. Natürlich durfte ich nicht maßlos Geld ausgeben. Pio, der den einzigen Computer mit Internetanschluss der Akademie besaß und außerdem die Chroniken der magischen Welt hütete, wachte über die Finanzen der magischen Welt und prüfte die Eingänge und Ausgaben. Kam ihm dabei etwas seltsam vor, meldete er sich sofort.
    Ich steckte zwei Einkaufsbeutel in meine Umhängetasche, schloss das Fenster, sah noch einmal nach Kira, die friedlich schlief, und machte mich auf den Weg.
     
    Ich liebte Spaziergänge durch den nächtlichen Wald. Sein Blätterdach war undurchdringlich und schloss den Mond und die Sterne aus. Die Bäume wirkten wie ein schwarzer Scherenschnitt auf dunkelgrauem Grund. Das normale menschliche Auge hätte die Hand vor Augen nicht gesehen. Doch ich konnte alles gut unterscheiden. Wenn ich etwas nah vor mein Gesicht hielt, konnte ich auch die Farben erkennen.
    Mein Weg führte mich ein paar Schritte am magischen See entlang, der tiefblau und teilweise bedeckt von Blüten im Mondlicht schimmerte. Ich hörte in der Ferne das Wispern der Salamander am Feuerdurchgang und vernahm ein Stück weiter das Lachen der Sylphen am Winddurchgang. Das letzte Stück bis zum Ätherdurchgang lag wieder in absoluter Dunkelheit unter den Bäumen. Ich begegnete niemandem. Die Nacht war schon zu weit fortgeschritten.
    Dann lichtete sich der Wald und ich stand auf dem Felsvorsprung, von wo aus ich in die Stadt kam. Unter mir breitete sich ein milchiges Grau aus; in Berlin war der Himmel bedeckt. Fiel etwa schon der erste Schnee?
    Wenn über der Stadt solch eine graue Wolkendecke hing, konnte man die Engel, die den Durchgang bewachten, kaum von ihr unterscheiden. Hörten sie auf, sich zu bewegen, sah man sie gar nicht mehr.
    Ich drehte mich auf den Fersen und ließ mich einfach rücklings in den Abgrund fallen. Es war immer, als würde ein weich schwingendes Netz meinen Sturz auffangen. Ich schwebte hinab wie eine der unzähligen Blüten im magischen Wald, sah zu, wie mein Körper seine Sichtbarkeit verlor und zu Wolkennebel wurde, genau wie der Nebel, aus dem die echten Engel bestanden. Wenn ich sie erreichte, spiegelten sie manchmal mein Gesicht und schnitten aus Spaß Grimassen.
    ‚Schönen Tag, Neve’, flüsterte einer von ihnen. Das Flüstern hörte ich nur in meinem Kopf. Dieser Engel war immer da, wenn ich den Durchgang passierte, nahm stets die Gestalt einer Frau an und hatte mir einmal seinen Namen verraten: Lilonda. Ich weiß nicht, wo er ihn herhatte. Vielleicht stammte er von einem ätherbegabten Menschen vor vielen hundert oder tausend Jahren. Manchmal wollte Lilonda auch etwas über mein Leben wissen, mit wem ich in der magischen Welt gerade zusammenlebte oder wen ich heute besuchen würde. Diesmal jedoch fragte sie nichts. Ich bedankte mich bei ihr mit einem Nicken, sie zwinkerte mir mit meinem eigenen Gesicht zu, und schon durchstieß ich die Wolkendecke, verlor den nachtschwarzen Himmel der magischen Welt über mir aus den Augen und steuerte, umgeben vom Wirbeln dicker Schneeflocken, auf die Dächer der Stadt zu.
     
    Als Erstes flog ich an der großen runden Kugel des Fernsehturms vorbei. Ich sah durch die Panoramascheiben der Aussichtsplattform, welche Sorten Kuchen es heute im Telecafé in der oberen Etage gab. In der Vitrine standen eine Erdbeertorte, eine Sachertorte und einige Stücke Käsemohn vom Blech.
    Es musste ein eisiger Wind wehen. Die Passanten auf dem Alexanderplatz zogen ihre Kragen hoch, hielten sich die Mäntel zu, trugen Mützen und hatten die Köpfe gesenkt. Die Weltzeituhr zeigte vierzehn Uhr.
    Ich glitt die Prenzlauer Allee entlang, genau über den Gleisen der Straßenbahn und flog mit ihr um die Wette. An der Danziger Straße bog ich rechts ab, dann nach links in die Greifswalder, trudelte vor den Wohnblöcken aus den 30er Jahren, die jetzt auf der rechten Seite in Sicht kamen, ein wenig aus und kam schließlich unter einem Torbogen, der zu den

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