Schattenmelodie
brauchst für dich haben.“
Was hatte er auf dem Boden zu tun gehabt? Auf die Frage fiel mir nur eine Antwort ein: Grete.
„Warum tust du das alles für mich? Hat Grete …“
Tom nickte.
„Deinetwegen hat sie zum ersten Mal mit mir gesprochen. Sie sagte, du wärst ihre Freundin. Grete schaut sonst alle Menschen immer nur so an, als wären sie … na ja, sagen wir … Kompost.“
„Kompost“, wiederholte ich und konnte mir ein kleines Schmunzeln nicht verkneifen.
Tom lächelte zurück. Er sah mich lange und interessiert an. Dieser Blick hatte jetzt nichts mehr damit zu tun, dass er etwas für Grete tat. Freude stieg in mir auf, aber gleichzeitig spürte ich Panik. Abrupt wandte Tom sich um, als müsse er sich von meinem Anblick und seinen Gedanken losreißen. Im Hinausgehen sagte er noch: „Übrigens, mein Pullover steht dir!“
Ich sah an mir herab. Die Ärmel gingen mir weit über die Hände und der Bund hing mir bis in die Knie. Den Rollkragen hätte ich auch als Mütze benutzen können.
Eine Stunde später saß ich mit einem Kissen und einer Decke auf einer Matratze in einer leeren Wohnung am Wetterplatz, die mir Tom zugeteilt hatte, und in der jetzt ein Radiator heizte und ein Kachelofen bullerte, von deren Wärme ich jedoch nichts mitbekam.
„Brauchst du Geld?“, hatte Tom mich gefragt, als er mir den ersten Schwung Holz und Kohlen brachte und es sich nicht nehmen ließ, mir zu erklären, wie ich den Ofen am schnellsten in Gang bekam.
„Nein, Geld hab ich … Danke.“
Er sah nicht so aus, als wenn er mir glaubte. „Es geht vielleicht nicht lange“, erklärte er und ich wusste, dass es wegen des Japaners war.
„Es ist okay.“
„Gut. Der Schlüssel hängt an einem Nagel im Flur, und die Tür zum Kohlenraum ist offen. Sie klemmt nur ein bisschen.“
Dann hatte er mich noch einmal sehr nachdenklich angesehen und war gegangen.
Ich zog mir den Rollkragen bis über die Nase und musste an Kiras Worte mit dem Duft denken. Auf einmal bereute ich, dass ich nichts mehr riechen konnte.
Es war schon seltsam. Meine Schützlinge hatten aus mir eine hilfebedürftige Obdachlose gemacht, um die sie sich kümmerten. Hatte ich eigentlich noch irgendetwas unter Kontrolle, oder wuchsen mir die Dinge gerade über den Kopf?
Tom spielte die halbe Nacht Klavier. Präludien von Bach, die Kinderszenen von Schumann und einiges von Brahms. Ich lauschte ihm abwechselnd in seinem schalldichten Raum und zwischendurch immer wieder vom Dachboden aus, wo die Töne abgedämpft zu mir heraufklangen.
Seine eigene Komposition spielte er ein paar Mal an, kam aber wie gehabt nicht weiter. Nur diesmal flippte er nicht aus deswegen. Es war noch schlimmer. Sein heutiges Spiel klang wie ein Abschiedskonzert. Nicht nur, als würde er den Versuch einer eigenen Komposition aufgeben, sondern als würde er das Klavierspielen ganz sein lassen wollen. Er trank Unmengen von Alkohol und ich erlebte ihn zum ersten Mal betrunken. Immer öfter verspielte er sich. Zwischendrin stand er auf und überprüfte die Mauer, die er hinter dem Fenster errichtet hatte, so als überlege er, sie wieder einzureißen. Dann schwankte er zurück zu seiner Klavierbank.
‚Komm, geh erst mal schlafen‘, versuchte ich als vernünftige Stimme in seinem Innern Kontakt zu ihm aufzunehmen.
‚Ach, halt’s Maul‘, antwortete er und ich musste mich ziemlich zusammenreißen, es nicht persönlich zu nehmen.
Er stand auf, holte das Handtuch, das auf der Matratze lag, und begann damit, Staub vom Flügel zu wischen. Nebenher schob er Notenhefte und lose Blätter zur Seite und warf sie alle in eine Ecke. Dann zog er sein Handy aus der Tasche, schaltete es an und machte ein Foto von seinem Flügel. Was sollte das? Wollte er ihn etwa verkaufen?
‚Ein Foto mit dem Handy ist nicht gut genug‘, bemerkte ich, um irgendwas herauszufinden.
‚Für den Online-Markt reicht es. Das Ding hat einen hohen Marktwert. Da ist das Foto fast egal.‘
Tatsächlich, er wollte sein Klavier verkaufen. Aber damit verkaufte er sich selbst! Das durfte auf keinen Fall passieren. Heute musste es mit dem Traum klappen, musste! Verdammt noch mal, wann ging er endlich schlafen?
Der Alkohol kam mir zu Hilfe. In den ersten Stunden schlief Tom auf seiner Matratze im Musikzimmer wie Blei, aber am frühen Morgen wurde sein Schlaf unruhig. In seinen Träumen ging es drunter und drüber, zusammenhangslose Bilder wechselten sich ab oder legten sich übereinander,
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