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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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alles wirr und durcheinander.
    Ich hatte mich einfach neben Tom gelegt und es zwischendrin sogar riskiert, für eine halbe Stunde sichtbar zu sein. Ich berührte ihn nicht. Nicht ein einziges Mal. Irgendwie ging es nicht. Weil ich immerzu daran denken musste, wie sehr ihn meine eiskalten Hände erschreckt hatten.
    Und dann sah ich mich selbst in seinem Traum, ohne dass ich etwas dafür getan hatte. Er stand vor mir und sah mich erwartungsvoll an.
    „Du wolltest mir letztens etwas zeigen“, sagte er. Erstaunlich, er knüpfte an den letzten Traum an!
    Ich nickte, gab ihm ein Zeichen mir zu folgen und ging zu der Eisenleiter, die auf das Dach führte. Wir kletterten hinauf. Als ich die Luke beiseite schob, fielen goldene Sonnenstrahlen herein. Ich vernahm bereits das Klingen der Blüten des magischen Waldes und stieg hinaus aufs Dach. Vor mir breiteten sich jetzt nicht die Dächer von Berlin aus, sondern ich tat den ersten Schritt in das Gras auf einer kleinen Lichtung mitten im magischen Wald. Millionen weißer Blüten mit himmelblauem Stempel schwebten zur Erde herab und erzeugten ihren vertrauten Gesang.
    Tom stellte sich neben mich, den Mund halb offen vor Staunen. Er fing eine der Blüten auf und hielt sie sich ans Ohr. Dann ging er ein paar Schritte, legte sich auf den Boden und lauschte den Tönen, die die Blüten von sich gaben, wenn sie ihn berührten. Er erhob sich wieder und ließ seine Arme durch die Luft wirbeln, um ihren Flug zu beschleunigen. Dabei änderten sich ihre Klangfarben, folgten Töne schneller oder langsamer aufeinander, klangen höher oder tiefer und ergaben insgesamt einen neuen, anderen Gesang. Tom lauschte an der Rinde eines roten Baumes, legte den Kopf tief in den Nacken und beobachtete die Wipfel weit über sich.
    Dann hob er beide Arme zum Himmel, drehte sich zu mir, strahlte mich an und sagte: „Was ich komponiere, es ist ein Lied. Ein Lied. Jetzt weiß ich es.“
    Er kam auf mich zu. Ich glaubte, er würde mich umarmen.
    Aber er blieb nur dicht vor mir stehen und sah mich mit seinen meerblauen Augen an: „Ich danke dir. Danke, dass du mir das gezeigt hast.“
    Die magische Welt um uns herum und wir selbst verwischten allmählich wieder, versanken im Nebel des Schlafes. Ich zog mich zurück und ließ Tom tief und traumlos weiterschlafen. Ich hoffte, dass er noch eine Weile ruhte, damit der Traum sich in ihm verfestigen konnte.
    Ich hatte es geschafft, endlich. Immer wieder würde ich jetzt vor mir sehen, wie Tom mich angesehen hat – so sanft und liebevoll. Ich hoffte, dass dieser Moment irgendwann Wirklichkeit würde.
    Langsam erhob ich mich und schrieb übermütig in den Staub auf den Flügel: Es ist ein Lied.
     
    Den Rest der Nacht verbrachte ich auf dem Dachboden, schaute mir die bunt verzierten Kekse in der Blechdose an, die Grete mir hingestellt hatte, und überlegte, ob ich einen probieren sollte und einfach anfangen sollte, wieder richtig lebendig zu sein.
    Am Anfang würde ich möglicherweise Bauchkämpfe haben, mir würde schwindlig werden und übel, aber bald würde sich alles einrenken und ich könnte herausfinden, welchen Geruch Tom hatte.
    Das war es, wonach ich mich auf einmal sehnte. Es war ein großer Unterschied, ob man nur in die Gedanken und Träume von jemandem schlüpfen konnte, oder ob man seine Wärme spürte und seinen Duft einsog.
    Ich erinnerte mich an die erste und einzige Verliebtheit in meinem Leben. Es war ein Junge aus meiner Klasse gewesen. Sechs Jahre lang besuchten wir zusammen die Grundschule, aber wir haben nie ein Wort miteinander gesprochen. Ich hielt es vor ihm und der ganzen Welt geheim, dass ich ihm mein Herz geschenkt hatte, und war am Ende auch froh darüber, denn in der sechsten Klasse ging er mit dem Mädchen, in das sich alle Jungs verliebten. Das kam mir so beliebig vor, dass ich beschloss, auf der Stelle nicht mehr verliebt in ihn zu sein. Ich verbot mir, jemals wieder an ihn zu denken. Meine Liebe war zu schade für ihn, so sehr hatte er sie mit der Wahl dieses Mädchens entwertet.
    Genauso unerreichbar wie dieser Junge erschien mir jetzt Tom, auch wenn die Umstände ganz andere waren. Trotzdem legte ich den schönsten Keks, ein buttergelbes Herz mit roter Zuckerglasur von dem ich am liebsten abgebissen hätte, zurück in die Dose und schloss sie wieder. Irgendwie konnte ich nicht.
     

Kapitel 16
     
    Ich kehrte in meine Wohnung zurück, schloss die Tür hinter mir, breitete meine Sachen auf der Matratze aus und überlegte, was

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