Schattenmelodie
Geld für ein Handy fehlen, und nickte verstehend.
Unglaublich, ich hatte einen Job. In der Realwelt. Wie ein ganz normaler Mensch. Das war eine Premiere. Hoffentlich merkte Tom nicht, dass ich noch nie auch nur einen Teller durch ein Restaurant balanciert hatte.
Eine Stunde später kamen mir Zweifel, ob es wirklich so günstig wäre, in der Kneipe von Tom zu arbeiten.
Zuerst hängte ich zwei Lichterketten in die großen Fensterscheiben. Später räumte ich den Keller ein wenig auf. Als ich wieder nach oben kam, winkte Tom mich an den Tresen und wollte mir zeigen, wie man Gläser richtig spülte.
In dem Moment begann es in meinem ganzen Körper zu kribbeln, dann tauchten die Bilder von dem kräftigen Typen mit dem warmen Lächeln und dem Hut in meinem Innern auf, und dann wusste ich: Janus. Er musste irgendwo im Raum sein. Ich hatte keinen Gedanken daran verschwendet, dass er hier Stammgast war.
Tom nahm ein Bierglas und führte mir vor, wie man es richtig reinigte, während ich unauffällig den Raum absuchte. Da saß er, ganz am Rand, derselbe Tisch wie bei der ersten Begegnung. Er hatte wieder Bücher dabei, las in einem davon und trank ein Bier. Als er hochschaute, schaute ich schnell weg. Ich wusste nicht, warum. Er war doch nett. Was war nur los mit mir?
„Und jetzt du“, hörte ich Tom neben mir. Er hielt mir ein Glas hin. Ich nahm es und wusch es irgendwie ab.
„Neve“, schalt er. „Du hast wohl kein bisschen hingesehen. Schon müde?“
„Tut mir leid. Ich war gerade mit den Gedanken ganz woanders.“
„Also doch eine Träumerin.“ Er zwinkerte mir zu.
„Könntest du es mir noch mal zeigen?“
Tom spülte ein Glas, ich machte es genauso nach, und er war zufrieden.
„Okay, dann gleich den ganzen Rest hier.“ Auf der Theke hatten sich einige benutzte Gläser angesammelt.
Tom stellte sich neben mich und zapfte ein Bier. Ich schaute kein einziges Mal in den Schankraum. Ob Janus mich schon bemerkt hatte? Ein Handy klingelte. Es war das von Tom. Er zog es aus der Tasche und antwortete. Nebenher stupste er mich mit dem Ellenbogen an, zeigte auf das volle Glas und dann auf Janus. Es war eindeutig, Janus’ Glas war leer und ich sollte ihm ein neues Bier bringen.
Ich nahm das leere Glas, welches vor Janus stand, und stellte das volle auf dem Untersetzer ab. Erst jetzt sah er von seinem Buch auf.
„Hi, Neve!“ Seine Stimme klang erstaunt und erfreut zugleich. Ich konnte nicht einschätzen, ob er mich jetzt erst bemerkt hatte oder schon früher.
„Ach, hi!“ Ich tat ebenfalls überrascht.
Heute trug er seine Haare zu einem Zopf gebunden und ich staunte, wie die dunklen Augen in seinem markanten Gesicht leuchteten.
„Wie geht es dir? Arbeitest du etwa hier?“
„Ja, ich helfe ein wenig aus, zur Weihnachtszeit.“
Er taxierte mich und lächelte. Das Kribbeln in meinem Körper war immer noch da. Dazu kam jetzt ein Brennen auf den Wangen. Wurde ich etwa rot? Das passierte mir so gut wie nie, und wenn, dann spürte ich dabei nichts. Er sollte sofort aufhören, mich so anzusehen!
„Stimmt irgendwas nicht?“, fragte ich ein wenig schnippisch.
„Bei eisigsten Temperaturen läufst du draußen ohne Mantel herum. Und in der Sauna hier drin arbeitest du im Rollkragenpullover, hab ich grad gedacht, sorry. Du hast gefragt, du wolltest es wissen.“
Er machte eine entschuldigende Geste. Ich griff mir unwillkürlich an den Rollkragen. Wenn ein paar Sinne verklebt waren, war es nicht leicht, das zu verbergen.
Aber dann fiel mir eine schlüssige Erklärung ein: „Im Keller ist es kalt. Da habe ich bis eben aufgeräumt.“
„Oh, ach so.“ Janus klang ein wenig enttäuscht, als hätte er mich gern dabei ertappt, wieder etwas Unlogisches zu tun. Vielleicht war es das, was mir an ihm nicht behagte. Er beobachtete sehr genau und schien andere durchleuchten zu wollen. Ich drehte mich um, und wollte weiter Gläser abwaschen gehen. Dabei nahm ich im Augenwinkel auf dem Rücken eines der Bücher den Titel wahr.
Geh, wohin dein Herz dich trägt
Las ich richtig? Der Roman von Susanna Tamaro war eines meiner Lieblingsbücher, so traurig und voller Gefühle. So ein schönes Tagebuch einer Großmutter an ihre Enkelin. Als ich dieses Buch gelesen hatte, hatte ich zum letzten Mal warme Tränen geweint.
Ich beugte mich vor und berührte das Buch. „Warum liest du das?“
Meine Frage klang garantiert seltsam, aber ich bekam den Titel nicht mit dem breitschultrigen, etwas unheimlich erscheinenden
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