Schattenmelodie
die kleine Platte und goss Glühwein hinein.
Dann kam er mit einer Wolldecke wieder zu mir.
„Setz dich hier aufs Sofa. Das Feuer wärmt schon. Und nimm die Decke.“
Er sah mich an, doch ich rührte mich immer noch nicht.
„Alles in Ordnung?“, fragte er.
Ich nickte wieder und nahm die Decke, die mir Janus aus sicherer Distanz reichte.
„In deiner Geburtsurkunde steht sicher Janusz – mit Z hinten.“ Ich versuchte unbekümmert zu klingen, als wäre überhaupt nichts geschehen.
„Oh ja, das stimmt!“ Janus wirkte sichtlich erleichtert, weil ich mich wieder rührte und etwas sagte. „Aber meine Mutter hat eine lateinische Form draus gemacht und mich Janus genannt und das gefällt mir auch besser.“
Der Fluchtgedanke verflog. Was war nur los mit mir? Hielt ich es etwa nicht mehr unter Menschen aus? So ein Blödsinn. Die Leute hatten sich schon immer erschrocken, wenn sie merkten, wie kalt meine Hände waren. Das war überhaupt nichts Neues. Und im Winter gab es manchmal so komische Entladungen, wenn man jemand anders berührte. Ich erinnerte mich, wie meine Oma und ich uns darüber immer lustig gemacht hatten. Es war mir nur lange nicht mehr passiert.
Ich setzte mich auf die Couch und hüllte mich der Form halber in die Decke. Das Feuer knisterte und die Flammen wirkten außergewöhnlich golden. Die großen Holzscheite mussten aus einem besonderen Holz sein, dass sie solche Flammen erzeugten.
Janus brachte mir eine bauchige Tasse mit dampfendem Glühwein. Er zog sich einen der Sessel heran und erhob seine eigene Tasse: „Mit Zimt und Rosinen, und einer Prise Pfeffer, so wie ihn meine Mutter immer gemacht hat. Ich hoffe, es schmeckt dir.“
„Danke“, sagte ich und führte die Tasse zum Mund. Der Dampf stieg mir in die Nase. Ich wollte so tun, als wäre der Glühwein noch zu heiß, aber stattdessen nahm ich einen winzigen Schluck und dann noch einen größeren und noch einen und noch einen. Ich wusste nicht, was los war. Ich wollte diesen Glühwein trinken, musste, am liebsten gleich die ganze Tasse, wie eine Verdurstende, die endlich, endlich Feuchtigkeit an ihren Lippen spürte. Es brauchte eine Menge Disziplin, nicht gleich alles hinunterzukippen.
„Lecker, nicht wahr?!“ Janus lächelte mich hinter seiner Tasse hervor an.
„Ich habe noch nie so einen köstlichen Glühwein getrunken“, seufzte ich.
„Oh, das liegt an dem Rezept. Eigentlich gehören noch in Rum getränkte Mandarinenstückchen hinein. Meine Mutter hat ihn immer zu Weihnachten gemacht. Da war ich noch klein. Aber ich durfte einen Eierbecher voll probieren.“
„Ich nehme an, deine Mutter ist Deutsche?“ Ich war es gewohnt, Menschen über ihr Leben auszufragen. Nur bei Janus war es mir unangenehm, weil ich bei ihm Gegenfragen befürchtete. Trotzdem fragte ich. Ich konnte einfach nicht anders.
„Sie war Deutsche. Oder ist … ich weiß es nicht. Sie ging nach Amerika, als ich fünf war, nach New York. Mein Vater und ich haben dann nichts mehr von ihr gehört.“
„Das klingt sehr traurig.“
„Ich weiß nicht, ob es traurig ist. Ich kann mich kaum an sie erinnern. Eigentlich sehe ich immer nur ein paar Fotos vor mir, wenn ich an sie denke. Und eben Weihnachten, wie sie den Glühwein verteilte. Ich weiß nicht mal, ob sie den Glühwein immer gemacht hat. Das ist nur so eine Vorstellung. In Wirklichkeit kann ich mich nur an das letzte Weihnachten erinnern.“
„Sie hat dich verlassen?“
„Ja, das hat sie. Ich war lange Zeit sehr wütend auf sie. Aber in den letzten Jahren hat sich das gelegt.“
„Warum hat sie das getan?“
„Sie war noch sehr jung, eine Studentin aus Ostberlin, die nach Danzig gekommen war, um eine Vorlesung meines Vaters zu hören. Er war Professor für vergleichende Mythologie und achtzehn Jahre älter als sie.“
„Achtzehn Jahre, das ist eine lange Zeit.“
„Meine Mutter besaß einen großen Lebenshunger. Mein Vater reiste und hielt Gastvorträge in ganz Osteuropa. Er konnte ihr einfach was bieten.“
„Aber warum haben sie sich getrennt?“
„Ich denke, sie bekam zu schnell ein Kind – mich. Mein Vater hörte auf mit den Gastvorträgen und zog sich immer mehr zurück. Nestbau und Familienleben waren nicht so sein Ding. Und dann war da plötzlich ein Mann aus New York, der ihr nicht nur den Ostblock zeigen konnte, sondern die ganze Welt.“
„Oh, das ist …“
„… verständlich, würde ich inzwischen sagen. Ich meine, sie war jünger als ich jetzt, Mitte zwanzig. Zu
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