Schattenmelodie
vorkam oder ich mir das nur einbildete, und stellte mir vor, was ich alles tun könnte, um ein bisschen mehr wie Charlie zu sein.
Kapitel 18
Die Schmuck- und Kosmetikabteilung im Erdgeschoss des Kaufhauses, mit ihrem Glanz und den vielen Spiegeln, erinnerte mich an die magische Welt. Nur dass das Glitzern und Leuchten künstlich war und durch die vielen Lichtbrechungen in Edelsteinen und Spiegeln erzeugt wurde.
Ich stand vor den Lippenstiften und griff einfach den, der mich am meisten anleuchtete, doch nicht so wie Erdbeeren, eher wie Kirschen. Ich hielt ihn gegen meinen roten Schal. Richtig gewählt, exakt der gleiche Farbton.
Zum ersten Mal in meinem Leben kaufte ich einen Lippenstift und benutzte ihn, gleich nachdem ich an der Kasse bezahlt hatte. Ich betrachtete mich in einem der zahllosen Spiegel. Meine Haut war fast so weiß wie mein Mantel. Der knallrote Schal und jetzt der Lippenstift hoben sich kräftig davon ab. Sah ich nun wirklicher oder lebendiger aus? So wie Charlie mit ihrem rot bemalten Mund? Oder eher noch unwirklicher? Auf jeden Fall sah ich nicht aus wie jemand, der weder Geld noch Arbeit noch eine Bleibe hatte.
Ich warf einen Blick auf eine der Uhren, die in einer Vitrine auslagen. Sechzehn Uhr. Ich verließ das Kaufhaus und machte mich auf den Weg zu Tom in die Kneipe, entschlossen, den Eindruck, den er von mir hatte, zurechtzurücken.
Kurz vor der Eingangstür zögerte ich noch einmal. Dann dachte ich an Kiras Worte, dass ich auch so sein konnte wie Charlie, und gab mir einen Ruck.
Drinnen war kaum etwas los. Nur drei Gäste. Ich steuerte schnurstracks auf die Bar zu, hinter der Tom wie gewohnt stand und Gläser polierte, und schlug einen erfrischenden Tonfall an: „Hi Tom, wie geht’s?! Ich nehme ein Wa…, ein Bier, kleines.“
Er sah mich überrascht an. „Ein Bier?“
„Wieso nicht? Sehe ich etwa so aus, als wenn ich kein Bier trinke?!“
Ich legte meinen Mantel über den Hocker, schwang mich hinauf und klammerte mich hastig an den Tresen, weil der Hocker beinahe gekippt wäre.
„Nein, überhaupt nicht!“, versicherte er mir, obwohl klar war, dass er genau das gedacht hatte. Er nahm ein Glas und stellte es unter den Zapfhahn. Oh je, wenn ich jetzt nicht völlig dumm dastehen sollte, musste ich es trinken. Und es war nicht nur Wasser, sondern gleich Alkohol.
„Wie geht es dir?“, fragte er.
„Bestens. Ich glaube, die Krise ist schon überstanden. Ich habe eine hübsche Wohnung in Aussicht. Nur ein neuer Job fehlt mir noch. Da, wo ich gearbeitet habe … na ja, hängt eben alles zusammen … da geht’s jedenfalls nicht weiter.“ Ich plauderte einfach los, ohne mir was zurechtgelegt zu haben. Tom stellte mir das Bier hin und musterte mich.
„Was hast du denn gemacht bisher?“ In dem Moment kam mir die zündende Idee. „In einem Restaurant gearbeitet. Hotelrestaurant“, antwortete ich.
„In einem Restaurant?“ Erneut sah mich Tom komisch an.
„Ja, wieso nicht? Sehe ich etwa nicht so aus, als wenn ich …“
„Doch, doch …“, unterbrach er mich und meinte definitiv das Gegenteil.
„Du bist nicht ehrlich“, sagte ich und versuchte dabei so herausfordernd zu klingen wie Charlie, während ich ein breites Lächeln mit Augenaufschlag von unten probierte.
Tom fuhr sich durchs Haar. Er trug heute ein langärmeliges, schwarzes Shirt, das hervorragend seinen wohlgeformten Oberkörper zur Geltung brachte. Verrückt, ich hätte nie für möglich gehalten, dass ich mal auf so etwas achten würde.
„Hm, ich hätte gedacht …“ Er schwieg.
„Was?“, drängelte ich.
„Vielleicht irgendwas mit Büchern.“
Oh, da lag er richtig. Sah man mir das also an? Wirkte ich etwa wie eine spröde Bibliothekarin? Von Charlie hatte er mit Sicherheit nicht geglaubt, dass sie was mit Büchern machte.
Okay, jetzt frech antworten: „Weil ich einen verstaubten Eindruck mache?“
„Nein, nein … nur, du hast so was Verträumtes, so in dich gekehrt, so … oder sagen wir, das war mein erster Eindruck … vielleicht, weil du völlig neben der Spur warst, als wir uns das erste Mal gesehen haben. Aber vielleicht auch …“ Er sah über mich hinweg in die Luft, lächelte. Er erinnerte sich gerade definitiv an seinen Traum vom magischen Wald mit mir darin, aber das konnte er mir natürlich nicht anvertrauen.
„… egal. Oder was mit Musik, das hätte es auch sein können.“
„Musik?“
„Deine Hände.“ Er zeigte auf meine Hände.
„Sie sind sehr feingliedrig.
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