Schattenmelodie
Glühwein längst alle war. Oh je, ich hatte gar nicht bemerkt, wie ich ihn ausgetrunken hatte. Ich stand auf und schwankte. Alles drehte sich um mich. Das Piken in der Magengegend verstärkte sich jede Sekunde. Alle Alarmglocken in mir schrillten, dass ich sofort gehen sollte.
„Die Seele dieses Ladens“, erklärte Janus. ‚Ich muss gehen‘, wollte ich antworten, aber stattdessen kam: „Die Seele …“
Hinter der Treppe, die in den zweiten Stock führte, befand sich eine Tür, die mir bisher gar nicht aufgefallen war. Janus öffnete sie und wir fanden uns in einem Lagerraum voller Bücher wieder, mit Regalen bis zur Decke, die so vollgestellt waren, dass man die Bretter und Seitenwände nicht mehr sah. Der Eindruck entstand, die Wände würden aus Büchern bestehen. Und die Decke. Und der Fußboden. Alles. Bücher stapelten sich vor den Regalen und in Kisten. Ich konnte nicht mal ein Fenster entdecken. Wahrscheinlich war es komplett zugestellt.
„Bis ich das alles geordnet und katalogisiert habe – ein Lebenswerk.“
„Wow.“ Ich kippte ein wenig gegen Janus’ Schulter, wich zurück gegen den Türpfosten und kicherte. „Ein Haus aus Büchern ist das. Wie das Herz einer Weltbibliothek. Du bist der Herr der Bücher. Ein Bücherzauberer“, sprudelte es aus mir heraus.
Ich verhielt mich total albern. Das war der Alkohol. Ich musste sofort weg hier, wenn ich nicht komplett mein Gesicht verlieren wollte. Stattdessen ließ ich mich auf einen Stuhl plumpsen, der in dem Raum stand und erstaunlicherweise nicht mit Büchern belegt war. Janus sagte nichts, lehnte einfach nur neben einem der Regale und lächelte mich an. Ich zog ein Buch aus dem Regal.
„Sind sie alle polnisch?“
„Fast alle. Das Erbe meines Vaters, inklusive einer alten Bibliothek, die seinerzeit komplett in seinen Besitz übergegangen war.“
„Du könntest sie digitalisieren und dann ließen sie sich mit einem Klick übersetzen und ich könnte sie lesen.“
„Mit einem Klick?“
Oh je, ich hatte mich verplappert. Bücher mit einem Klick übersetzen, das ging nur mit den Geräten in der magischen Welt. Ich ließ seine verwunderte Frage einfach unter den Tisch fallen. Ich musste jetzt unbedingt los.
„Vielleicht kannst du ja noch einen Nebenjob gebrauchen und hast Lust, mir bei meinem Lebenswerk zu helfen?“, schlug Janus vor.
„Ich?“
„Du magst Bücher auf besondere Weise und du hast einen polnischen Vater. Das sind gute Kriterien für mich.“
In einem Antiquariat arbeiten. Eigentlich hatte ich mir immer eine Arbeit dieser Art vorgestellt, falls ich in der realen Welt jemals eine annehmen würde.
„Warum nicht? Ich werde dir helfen“, antwortete ich, obwohl ein Teil in mir immer noch sicher war, Janus nicht wiedersehen zu wollen.
„Prima. Dann brauche ich gar keine Annonce mehr in die Zeitung zu setzen. Ich war schon drauf und dran.“
Woher kam nur dieses Zuhausegefühl zwischen all den polnischen Büchern? Die Antwort war eigentlich klar: Janus war in Polen geboren worden, er sprach die Sprache meines Vaters und das gab mir ein wenig das Gefühl von Heimat – ausgerechnet bei Janus.
Okay, genug, weg hier – sofort!
‚Ich muss gehen‘, wollte ich sagen, aber aus meinem Mund kam: „Es ist schön hier. Hier könnte ich wohnen.“
Hier könnte ich wohnen? War ich denn von allen guten Geistern verlassen??
„Neve. Du bist irgendwie lustig – und geheimnisvoll. Weißt du das eigentlich?“
Als Antwort sprang ich auf und stürzte aus dem Raum. Das Stechen in der Magengegend steigerte sich ins Unerträgliche. Ich hatte das Gefühl, mein Gehör zu verlieren. Alles schien vor meinen Augen zu verschwimmen. Ich stolperte durch den vorderen Raum zur Tür. Frische Luft. Ich brauchte dringend frische Luft.
Janus war schneller und öffnete mir die Tür. Ich taumelte hinaus.
„Ich muss jetzt gehen“, würgte ich hervor, während ich mich krümmte vor Schmerzen.
„Neve, was ist? Ist dir schlecht? Du kannst so nicht …“
„Doch“, rief ich und begann zu laufen, immer schneller, rannte durch die Einfahrt des Vorderhauses, bog um die Ecke und nahm alle Kräfte zusammen, um mich in Luft aufzulösen.
Es funktionierte, trotz meines Zustandes. Gott sei Dank.
Sofort hörten die Schmerzen auf, mein Blick wurde wieder klar und das Rauschen in den Ohren ließ langsam nach. So etwas Unvernünftiges, gleich zwei Gläser Glühwein zu trinken! Was war nur in mich gefahren?
Ich schaute zurück. Janus stand noch vor
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