Schattenmelodie
bevor du reif dafür bist. Das wäre zu riskant, zu gefährlich und könnte deinen Tod bedeuten.“
Grete fuhr sich nervös durchs Haar. Sie atmete schwer. Ich befürchtete einen weiteren Wutausbruch. Aber stattdessen begann sie zu zittern und sagte: „Aber ich habe Angst.“
Ihre Stimme klang jetzt hoch und kindlich.
Ich war erleichtert. Es gab einen Teil in ihr, der mir glaubte.
„Das brauchst du nicht. Ich bin da und ich begleite dich. Wenn plötzlich Bilder vor deinem inneren Auge auftauchen, von einem bestimmten Ort, und wenn sie immer wiederkehren, dann kommst du zu mir und erzählst mir davon. Versprichst du mir das?“
Grete nickte.
„Und bis dahin, einfach normal weiterleben. Vor allem zur Schule gehen. Du musst frei sein – Krankenhaus, Polizei oder Ähnliches –, keiner darf dich irgendwo festhalten, wenn es so weit ist, das darf nicht passieren, okay?“
Grete nickte erneut.
„Bekomme ich die Kekse zurück? Natürlich esse ich sie“, versprach ich ihr. „Dass man aufhört zu essen und zu trinken, das ist nur vorübergehend.“
Grete reichte mir die Keksdose und sah mich an.
„Wir sind beide verrückt, nicht wahr?!“ Sie hatte ihre normale Stimme zurück.
„Nein, das sind wir nicht“, versicherte ich ihr.
Sie wandte sich um und sagte, während sie die Treppe hinaufstieg: „Alle in diesem Haus sind verrückt. Ich weiß es. Und du hast eine Alkoholfahne, Neve. Du trinkst zu viel, genau wie mein Vater.“
Verwirrt ließ ich mich auf die Matratze fallen. Ich hatte eine Alkoholfahne? Das konnte doch nicht sein. Aber Grete hatte irgendwas gerochen. Ich ging ins Bad, drehte den Wasserhahn auf, fing Wasser mit den Händen auf und spülte mir den Mund aus. Wieder und wieder. Ich hoffte, das würde helfen. Ich musste mir schnellstens eine Zahnbürste und Zahnpasta besorgen. Vielleicht sollte ich einen Keks essen? Oh je, wieder hatte mir Grete ein Versprechen entlockt, das ich eigentlich nicht halten wollte. Nein, ich aß jetzt keinen Keks.
Wahrscheinlich machte ich alles falsch mit Grete, was man nur falsch machen konnte. Bestimmt hatte ich ihr viel zu viel verraten.
Ich ging ins Zimmer und ließ mich wieder auf meine Matratze fallen. Meine Bauchschmerzen waren zum Glück verschwunden. Was würde die ungewohnte Flüssigkeit weiter in meinem Körper anrichten? Meinen Blutkreislauf wieder in Schwung bringen? Mein Herz? Nach dem halben Eierkuchen, den ich letztens gegessen hatte, war auch nichts passiert, versuchte ich mich zu beruhigen. Mit einer gewissen Menge an materieller Nahrung schien mein feinstofflicher Körper irgendwie zurechtzukommen, wandelte sie einfach in Energie um.
Was dachte Janus? Hoffentlich nur das, wonach es ausgesehen hatte: ein Mädchen, bei dem ein wenig Alkohol ziemlich schnell wirkt und das deshalb nicht in eine peinliche Situation hatte geraten wollen. Ansonsten hatte ich mich doch recht normal und wenig auffällig verhalten.
In dem Moment fiel es mir siedend heiß ein: Ich hatte abermals meinen Mantel vergessen. Ich seufzte. Daran ließ sich wohl nichts mehr ändern.
Und dann hörte ich sie, die Melodie, die mir schon so ans Herz gewachsen war, die es ausfüllte und besänftigte. Tom saß oben an seinem Flügel und spielte. Die erste Seite, einige Male hintereinander. Er probierte zwischendrin ein paar neue Takte. Dann fing er wieder von vorn an.
Auf einmal hörte ich ihn dazu summen, ohne Text, er summte und trällerte vor sich hin. Dazu variierte er dann das Thema seiner Komposition, versuchte andere Tonarten und Begleitungen. Es klang fröhlich, optimistisch, beschwingt. Tom war gut drauf. Wie es schien, hatte er seine Zuversicht zurückgewonnen.
Ich sprang auf, befreite mich aus den lästigen Wintersachen, zog mein hellblaues Sommerkleid aus dem Rucksack, kämmte meine Haare und beschloss, ihn zu besuchen, ein wenig bei ihm zu verweilen, ihn zu sehen und ihm zuzuhören – unsichtbar, ganz ich selbst und nur als Muse.
Kapitel 21
Tom war betrunken. Seinem Klavierspiel hörte man das nicht an. Dafür war seine Körpersprache jedoch mehr als deutlich. Er hing mehr auf seiner Klavierbank, als dass er saß. Neben ihm standen bereits zwei leere Rotweinflaschen. Immerhin hatte er etliche Blatt Papier mit neuen Entwürfen, Noten und sogar Text gefüllt.
Gerade spielte er zwei Töne – F und Fis – immer abwechselnd, monoton, fast zum Verrücktwerden, so als würde eine Schallplatte haken. Trotz seines Zustandes sah er umwerfend aus,
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