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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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nahezu dramatisch. Er trug ein weißes Hemd, die oberen Knöpfe geöffnet und wirkte damit wie ein Adliger aus dem 18. Jahrhundert. Dazu eine schwarze Hose, als hätte er sich für ein Konzert zurechtgemacht. Auf dem Flügel brannten zwei Kerzen.
    Ich ging um ihn herum und las die fragmentarischen Zeilen auf den losen Blättern, die auf dem Boden lagen. Nur der Wind ist blind … Blüten fliehen in die Nacht … und das Klingen erstarb am Boden … führ mich, Fremde, in dein Land … Sehnsucht sinkt herab wie Nebel … leis erklingt der Wald und träumt … und ihr Lachen weckt mich rau … Manche Zeilen hatte er mehrfach wiederholt, Wörter herausgestrichen, andere eingefügt.
    Einiges schien von unserem Traum inspiriert. Andere Wortfolgen hatten mit dem Traum nichts zu tun. Er versuchte, ein Lied zu schreiben, aber bisher fügte sich augenscheinlich nichts zusammen.
    Endlich hörte er auf, immer dieselben Töne anzuschlagen, und begann die Mondscheinsonate zu spielen. Ich versuchte einen Gedanken in seinem Kopf zu fassen zu kriegen, aber da war nichts. Er dachte tatsächlich nur an die Nacht und den Mond, wie er hinter dem großen halbrunden Dachbodenfenster über die Dächer stieg.
    ‚Du darfst keinen Alkohol trinken, wenn du komponierst. Das betäubt deinen schöpferischen Sinn‘, gab ich ihm ein.
    ‚Blödsinn, Hemingway hat auch getrunken und nicht zu knapp.‘
    ‚Hätte er es sein gelassen, würde ich seine Bücher vielleicht mögen.‘
    Tom hielt einen Moment inne in seinem Spiel und zog die Stirn kraus. Mist, ich hatte eine persönliche Antwort gegeben, die schwer aus seinem eigenen Innern kommen konnte. Wie hatte mir das bloß passieren können? Dann schüttelte er ein wenig den Kopf und musste sich dabei an den Tasten festhalten, damit er nicht von der Klavierbank rutschte. Er räusperte sich, straffte sich und begann die Mondscheinsonate von vorn.
    „Der Künstler glaubt, dass Alkohol ihn entspannt, aber am Ende macht er ihn kaputt“, sagte er auf einmal laut. Seine Stimme hatte er nur mäßig unter Kontrolle.
    Und dann spielte er die Mondscheinsonate so wunderschön, dass ich mich vor ihm auf dem Flügel abstützte und ihn einfach nur ansah. Er war wie ein Gemälde, das lebendig geworden war. Niemals ließ sich dieses Bild mit dem Barkeeper im Absturz zusammenfügen. Wie gern wäre ich jetzt zu ihm gegangen und hätte meine Arme um ihn gelegt.
    Plötzlich sah Tom mich an. Ich spürte ein Vibrieren und … oh mein Gott … bemerkte, dass ich Gestalt anzunehmen begann. Jetzt schon? Ich war doch erst eine Viertelstunde hier? Ich konzentrierte mich, aber wenn er jetzt genau hinsah, würde er bereits Konturen vor sich sehen, wie Lichteindrücke auf überbelichteten Fotos. Sofort duckte ich mich hinter dem Flügel.
    Tom hörte auf zu spielen und kniff die Augen zusammen. Ich floh unter dem Flügel hindurch, dicht am Boden bleibend auf die Tür zu, wie ein Hauch von Bodennebel, den Tom hoffentlich nicht entdeckte. Dann zwängte ich mich durch den Türspalt, gerade noch so.
    Meine Gestalt nahm immer mehr Form an. Ich konnte gar nichts dagegen tun. Bereits im Innern des Schrankes wurde ich sichtbar, stieß panisch gegen die Schranktür, sodass sie aufflog und gegen den Stuhl knallte, der danebenstand. Wie dumm von mir! Es polterte fürchterlich.
    Ich stolperte aus dem Schrank, fiel auf die Knie, rappelte mich auf, schaffte es aber nur um die Ecke in den Flur.
    Da hörte ich Toms Stimme hinter mir. „Wer ist da!!“ Seine Stimme klang bedrohlich. Schon hatte er mich eingeholt und stand mir gegenüber.
    Ich war außer Atem, holte tief Luft und versuchte, ganz ruhig zu erscheinen. Ich lächelte ihn unschuldig an: „Hi, Tom, die Wohnungstür stand offen und …“
    „Was? Die Wohnungstür? Das kann nicht sein!“
    „Oh doch, wie sollte ich sonst hineingekommen sein?“
    „Was machst du hier?“, fuhr er mich an. Er schwankte, rieb sich die Augen, hielt sich am Türpfosten zur Küche fest und sah mich wieder an. Unwillkürlich dachte ich an Charlie, wie würde sie so eine Situation meistern?
    „Das Hemd sieht cool aus, steht dir“, sagte ich.
    Aber Tom blieb ernst und klang jetzt noch wütender. „Was machst du hier?!“, wiederholte er.
    „Ich … ich …“ Alles sackte in mir weg wie ein Schluck Wasser, der das formgebende Gefäß verlassen hatte. Und dann konnte ich nicht anders, als mit der Wahrheit herauszuplatzen: „Ich habe Klaviermusik gehört“
    Schuldbewusst hielt ich den Kopf gesenkt und

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