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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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brachte ich heraus.
    „Ja, das ist ja das Besondere.“
    „Jemand hat die andere Hälfte“, analysierte ich.
    „Nein, eben nicht!“ Sie sah mich triumphierend an.
    „Nicht?“ Ich begriff nicht. Ich wusste doch, dass Tom seinen Körper für immer mit der zweiten Hälfte gezeichnet hatte.
    Aber dann sagte sie: „Schau dir an, wie zerfleddert es ist, da wo es auseinandergerissen wurde. Der Riss ist so kompliziert, dass es keine zweite Hälfte geben kann, die da genau ranpasst.“
    Die Zacken und Einschnitte, die Fasern, die wie lose Enden flatterten und eine Art Schweif zu bilden schienen – das sah tatsächlich sehr zerfleddert aus.
    „Und genau das ist die tiefere Symbolik: Es gibt keine passende zweite Hälfte. Gibt es nicht. Es gibt höchstens Hälften mit größtmöglicher Ähnlichkeit. Genau wie in der Liebe: Je mehr Eigenschaften zusammenpassen, desto besser versteht man sich, aber es existiert immer ein Teil, der sich von der anderen Person unterscheiden wird. Diese Unterschiede muss man überbrücken, mit Nachsicht behandeln, annehmen.“
    Ich nickte nur und fragte mich sofort, wie groß die Ähnlichkeiten zwischen Charlies und Toms tätowierter Herzhälfte waren.
    „Warst du schon mal verliebt, ich meine so richtig? … Oder bist du mit jemandem zusammen?“ Charlie schaute mich neugierig an, während sie Salbe auf ihre sich freiwillig zugefügte Wunde auftrug.
    „Äh, nein, ich …“
    „Der Typ da gestern in der Kneipe“, unterbrach sie mich, „der machte den Eindruck …“
    „Oh, nein, nein, wir sind nur Freunde“, fiel ich ihr ins Wort.
    „Dachte ich mir, aber er sah so aus, als wenn er ziemlich interessiert wäre. Er wirkt wie die Sorte Typ, die einen einsaugen wollen, mit Haut und Haaren.“
    „Was?“ Jetzt war ich aus zwei Gründen erstaunt. Einmal, dass Charlie uns gesehen und sogar beobachtet hatte. Und zum Zweiten, dass ihr Urteil über Janus auf diese Art ausfiel.
    „Tatsächlich? Diesen Eindruck habe ich überhaupt nicht. Er ist sehr zurückhaltend. Also, einfach nur wie ein Freund.“
    Charlie wiegte nachdenklich den Kopf, während sie eine neue Mullbinde, die sie ebenfalls aus der Reisetasche gefingert hatte, aus der Verpackung nahm.
    Dann zuckte sie unbekümmert mit den Schultern. „Na, vielleicht hast du recht.“
    Das war jetzt ein guter Moment, um sie beiläufig wegen Tom auszufragen.
    „Und du und Tom? Du hast ihn dazu gebracht, seine Arbeit stehen und liegen zu lassen und dann seid ihr zusammen …“
    „Oh ja, allerdings! Er war ja so was von mies drauf. Ich dachte, wenn ich den nicht sofort aus seinem Stimmungstief reiße, dann …“
    „Und das hast du geschafft?“
    „Voller Erfolg!“, rief sie stolz. „Wir waren zusammen im Tattoo-Studio. Er hat jetzt auch so ein Herz. Sein allererstes Tattoo. Tattoos können eine echt kathartische Wirkung haben, weißt du. Besonders bei solchen Typen wie Tom.“
    „Solche Typen wie Tom?“
    „Ja! So verschlossen. Die brauchen öfter einen Wecker, der kräftig schrillt.“
    Auf einmal trällerte Charlie mir ins Ohr, dass mir Hören und Sehen verging.
    „So – weißt du?!“ Sie lachte.
    Ich hielt mir unwillkürlich die Ohren zu.
    „Oh, tut mir leid, dass ich dich erschreckt habe.“
    „Das war überzeugend“, gestand ich. Und das war es wirklich.
    „Und was ist Tom für ein Typ?“, wollte ich wissen.
    „Wie, was für ein Typ?“
    „Na, auch so wie Janus?“, wagte ich mich vor.
    „Ach so, ha, du meinst, ob er auf mich steht?“ Sie lachte wieder, sprang auf, zog ihre Strumpfhose hoch und packte die Salbe weg.
    „Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich glaube, er ist eher das Gegenteil von deinem Bekannten. Aber jetzt komm, ich will dir noch die Apparaturen im Keller und auf dem Dachboden zeigen. Die musst du dir ansehen! Wirklich!“
    Charlie stopfte die leere Reisetasche in eine zweite Reisetasche, in der sich noch allerlei Dinge zu befinden schienen, und bedeutete mir mit einem Nicken, dass wir aufbrechen würden. Während sie mitten durch den „Aurascanner“ ging, machte ich einen großen Bogen darum. Am liebsten hätte ich Charlie noch gefragt, wie sie denn Tom fand, aber jetzt waren wir irgendwie vom Thema weg und ich traute mich nicht mehr.
    Sie schwieg, während wir die Treppen hinunterliefen, und das wirkte nahezu unnatürlich bei ihr. Auch wenn es die goldene Regel gab, sich nicht aus Eigennutz in die Gefühlswelt von anderen Menschen einzuklinken, ich konnte mich nicht beherrschen und tat es

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