Schattenmelodie
ihre Nasenflügel und sog langsam und geräuschvoll Luft ein. Es war so ein Moment, in dem die Bombe entweder explodierte oder sicher entschärft wurde und für immer schwieg.
„Okay, du hast wieder gewonnen. Du bist eine ziemlich blöde Kuh“, sagte sie.
Bei blöde Kuh zuckte ich etwas zusammen, aber gleichzeitig war ich erleichtert. Ich hatte Grete zurück. Unwillkürlich dachte ich an Janus. Er würde sich freuen, dass ich wieder hier wohnte. Er sollte nur nicht denken, dass es sein Verdienst war.
„Ich muss los“, sagte Grete. Sie stand auf und stampfte mit ihren bis zu den Knien geschnürten schwarzen Lederstiefeln zur Tür.
Dann wies sie in die eine Ecke der Dachschräge gegenüber des Bettes. „Diesmal ist alles aufgezeichnet. Deine Versprechen und so …“ Sie zwinkerte mir zu und verließ den Dachboden, während mein Herz anfing zu stolpern.
An Charlies Apparaturen hier oben hatte ich überhaupt nicht mehr gedacht! Instinktiv sprang ich auf und entfernte mich aus dem Aufnahmewinkel der Kamera, auch wenn das jetzt nichts mehr nützte. Ich hatte keine Ahnung, was dieses Gerät genau aufzeichnete. Sicher ließ es eine Menge Raum für alle möglichen Interpretationen. Nur wäre es gut, wenn nicht ich im Zusammenhang damit erkennbar wäre. Aber vielleicht war ich das auch nicht, versuchte ich mich zu beruhigen.
„Neve? Bist du das?“
Toms Stimme. Im Treppenhaus waren Schritte zu hören. Mir fuhr ein Stechen durch alle Glieder. Der erste Impuls war, mich auf der Stelle unsichtbar zu machen und zu verschwinden. Ich fühlte mich nicht bereit für eine Begegnung.
„Neve!“, rief er wieder. An seinem Tonfall erkannte ich, dass er bereits Bescheid wusste, dass ich hier war. Wahrscheinlich hatte er Grete im Treppenhaus getroffen.
Wie erstarrt stand ich im Staub neben dem Gemäuer des Schornsteins. Die Tür öffnete sich quietschend und dann erschien er im Türrahmen.
„Neve!“ Tom strahlte über das ganze Gesicht. Er lief auf mich zu und machte eine Bewegung, als wollte er mich umarmen. Ich wich zurück. Also ließ er die Arme wieder sinken und blieb dicht vor mir stehen. Wie dumm, Tom hätte mich beinahe umarmt. Warum hatte er das früher nie versucht?
„Da bist du endlich wieder! Wo warst du denn? Und deine Wunde …“
Er schickte einen suchenden Blick zu meinen Händen.
Ich hielt meine rechte Hand hoch. Er sah sie sich an.
„Der kleine Schnitt? Ist ja kaum noch was zu sehen. Da bin ich ja beruhigt.“
Ich musterte ihn, während er auf meine Hand schaute. Er trug helle Jeans und hatte nur Socken an, keine Schuhe. Der beigefarbene Rollkragen aus grob gestrickter Wolle und dazu sein Dreitagebart und die noch vom Schlafen verzottelten blonden Haare standen ihm hervorragend.
„Aber was machst du so früh hier oben? Ich hab Schritte gehört. Ich dachte, es wäre schon wieder der Japaner, der hier unerlaubt herumschnüffelt.“
Ich sagte immer noch nichts. Tom machte den Eindruck, als hätte er mich vermisst. Als hätte er meinen Gedanken gehört, kam prompt eine Erklärung für seinen Überschwang.
„Meine Güte. Es klingt seltsam, ich weiß. Aber es ist, als könnte ich keine einzige Note schreiben, wenn du nicht im Haus bist.“ Er lächelte verlegen.
Natürlich, daher wehte der Wind. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst.
„Na ja, wahrscheinlich werden wir bald alle nicht mehr hier sein. Der Hauskauf ist jetzt offiziell. Stell dir vor, dieser Herr Tanaka hat am selben Tag noch die Räumungsklage für Viktor und Emma geschrieben. So ein Arsch.“
„Haben sie keine Miete mehr bezahlt?“ Endlich fand ich ein paar Worte und stand nicht mehr wie vom Donner gerührt vor ihm.
„Die letzten zwei Monate nicht. Für eine Räumungsklage reicht das.“
„Dein Lied. Ich dachte, du wüsstest jetzt …“
„Ja, dachte ich auch. Hab weitere Millionen von Textzeilen geschrieben, aber alles Mist, glaub mir. Charlie versucht, es zu singen. Alle Varianten. Es passt einfach nicht. Nichts passt zusammen. Text und Melodie – wie Feuer und Wasser. Aber es liegt nicht an Charlie. Sie ist eine tolle Sängerin.“
Jedes Mal, wenn er Charlie sagte, war das wie ein Nadelstich. Tom machte eine Bewegung Richtung Tür. „Komm, ich mach dir einen heißen Kaffee. Ich kann auch einen gebrauchen. Hier oben erfriert man ja.“
Nein, ich wollte nicht zu Tom. Es würde mir nicht guttun.
„Danke. Aber ich glaube, ich muss erst mal zu mir.“
Tom fuhr sich durchs Haar und seufzte. „Wo warst du, Neve.
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