Schattenmenagerie
ihn herein.«
Man begrüßte
sich, setzte sich an den Arbeitstisch, auf dem nur ein Telefon stand und das eben
beschriebene Notenheft samt Fax einsam auf der großen Fläche lag. In dem Regal an
der Längsseite des Raums schlummerten ein paar verstaubte Aktenordner. Die gegenüberliegende
Wand schmückte ein Porträt des Landesvaters.
Etwas spartanisch
eingerichtet hier, dachte Kroll. In seinem Lübecker Büro sah es ganz anders aus.
Dort konnte man den Wald vor Bäumen nicht sehen, sprich, den Schreibtisch vor Aktenordnern.
Allerdings war hier in der Kleinstadt Eutin auch nicht allzu viel zu ordnen. Das
organisierte Verbrechen hielt sich bislang in Grenzen. Dorndorf schien den verwunderten
Blick Krolls richtig zu deuten.
»Bei uns ist
nicht viel los«, kommentierte er die Tätigkeit seiner Abteilung. »Außer der Erstechung
eines SS-Mannes, der am Vorabend der Hitlerdiktatur in eine blutige Schlägerei mit
dem Reichsbanner verwickelt war, kann ich nur den berühmten Mord von 1830 an dem
Kammerherrn von Qualen erwähnen, einem dänischen Gesandten am Eutiner Hof. Beide
Taten blieben unaufgeklärt.«
Dorndorf ahnte nichts von der Ironie
des Schicksals: Sein Amtssitz befand sich genau auf dem ehemaligen Gelände derer
von Qualen. Das Haus wurde später abgerissen und durch das heutige Kreishaus ersetzt.
Der Kommissar residierte also genau am Tatort. Hätte er eine Zeitmaschine, wäre
es ihm ein Leichtes gewesen, den Namen des Mörders ans Tageslicht zu befördern.
»Na ja, die Aufklärungsquote ist
auch bei uns in Lübeck nicht gerade rühmenswert«, räumte Kroll ein. »Aber das sollte
uns nicht davon abhalten, in dem vorliegenden Fall nichts unversucht zu lassen.
– Hauptsache, die hohe Politik bleibt außen vor. Das zieht erfahrungsgemäß nur unnötige
Scherereien mit irgendwelchen Politikern nach sich.«
Dorndorfs Sekretärin brachte auf
einem Tablett eine Thermoskanne mit Kaffee, Milch, Zucker, Gebäck und zwei Tassen.
Während sich die beiden ihre Getränke zubereiteten, nutzte Kroll die Gelegenheit,
um seinen Kollegen näher zu mustern. Er hatte ihn seit der Festnahme eines als Ausbrecherkönig
berühmt gewordenen Schwerverbrechers vor sechs Jahren nicht mehr gesehen. Damals
war es Kroll mit der Hilfe seines Eutiner Kollegen gelungen, den Flüchtigen, der
sogar einen arbeitslosen Gärtner ermordete, um dessen Identität anzunehmen, in Lübeck
zu verhaften.
Die hagere Gestalt ihm gegenüber
konnte man auf den ersten Blick als vertrockneten Beamten verkennen. Wie Kroll ein
Mittfünfziger, mit schmalen, stets etwas gebeugten Schultern und einem gelblichen
Schnurrbart. Er war unauffällig, altmodisch und tadellos gekleidet. Auf den Ellenbogen
seines dunkelbraunen Jacketts prangten unübersehbar mausgraue Ärmelschoner. Ein
billiges Kassenmodell hing an einem Brillenband um seinem Hals. An seinem Haarschnitt
hatte der Friseur allenfalls zehn Euro verdient.
Er gehörte zu den Menschen, die
auf den Klassenfotos stets in der letzten Reihe standen, halb verdeckt durch Mitschüler,
die es schon frühzeitig gelernt hatten, sich ins rechte Licht zu rücken.
Ganz anders als mein spanischer
Kollege auf Mallorca, dachte Kroll und sehnte sich nach etwas Sonne und einem Glas
Hierbas zurück.
Aber dennoch spürte Kroll, dass
in seinem Gegenüber trotz der Biedermeierhülle ein tiefes Feuer brannte. Seine Augen
verrieten ihn. Und seine Finger. Seine Pupillen bewegten sich ununterbrochen, als
fürchte der Mann, er könne irgendetwas in seinem Leben verpassen. Die nervöse Unruhe
übertrug sich auf seine Hände. Mit seinen feingliedrigen, langen Fingern spielte
Dorndorf auf der Tischkante, als würde er eine virtuelle Tastatur mit Tristanakkorden
bedienen.
»Da gebe ich Ihnen recht«, setzte
Dorndorf das unterbrochene Gespräch fort. »Das war auch eines der Probleme im Fall
des Kammerherrn von Qualen. Von interessierter Seite wurde das Gerücht verbreitet,
der Vater des Ermordeten sei ein illegitimer Sohn des Zaren Peter III. gewesen,
und es ginge um Ansprüche auf den Zarenthron. – Sie können sich vorstellen, was
das bedeutete.«
Kroll konnte nicht. Ein Zar Peter
kam in Frau Grells Geschichtsübersicht nicht vor. Entsprechend machte er ein nicht
gerade intelligentes Gesicht, sodass Dorndorf nachhaken musste:
»Sie sollten wissen, dass Russland
in der Geschichte Eutins eine große Rolle spielte.«
Kroll musste unwillkürlich an den
russischen Auftragskiller denken, der mit hoher Wahrscheinlichkeit den Grafen
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