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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Zuhörer von vornherein sicher.«
    Viviana entzog sich mit einer heftigen
Bewegung Michas Arm und stieß sie vehement beiseite.
    »Also eins will ich mal klarstellen:
Ich würde mich heruntergesetzt fühlen, wenn man mich nur als Zirkussensation betrachtet.
Ich will Anerkennung, weil ich gute Musik mache, nicht weil ich eine Blinde bin!«
    Sie zeichnete mit ihrer Schuhspitze
imaginäre Kreise auf den Weg.
    »Im Übrigen kann ich dir eine Reihe
von blinden Spitzenpianisten nennen: George Shearing, Ray Charles und Stevie Wonder.
Oder im Bereich der Klassik: Der spanische Komponist und Organist Antonio de Cabezón,
der im 16. Jahrhundert lebte. Oder die seinerzeit gefeierte Pianistin Maria Theresa
von Paradis, die von keinem geringeren als Ludwig van Beethoven verehrt wurde. Und
dann, um ein Beispiel aus unseren Tagen zu nennen, Anja Braun aus Siegen, die nur
wenig älter ist als ich und schon tolle Erfolge feiert.«
    Viviana hatte sich in Rage geredet.
Trotzig stampfte sie mit dem Fuß auf, mitten in einen der Kreise, die sie auf dem
Weg hinterlassen hatte. Als ob sie beweisen wollte, dass sie sehen konnte.
    »Und zwar, weil sie geile Musik
macht, nicht weil sie blind ist. Sie ist mein Vorbild.«
    Noël versuchte, sie zu besänftigen.
»Beruhige dich, Viviana, die Micha meint das bestimmt nicht so. Du musst ihr das
nicht übel nehmen, für sie ist all das neu. Sie hat bisher in einer anderen Welt
gelebt, da denkt man anders, viel oberflächlicher.«
    Micha hakte sich wieder bei Viviana
ein. »Ja, bitte entschuldige. Ich hab eben noch nie mit einer Blinden gesprochen.
– Komm, lasst uns weitergehen. Jetzt bin ich richtig neugierig, wie du spielst.
Und ich verspreche dir, ich werde die Augen schließen, so als wäre ich auch blind.
– Und ich will mich nur auf deine Musik konzentrieren.«

Kapitel 6: Dorndorf
     
    »Und wenn ich die Oboenstimme nicht nach oben, sondern nach unten führe?
Vom Gis über das G zum Fis?«
    Dorndorf setzte sich an das verstimmte
Klavier, das an der Stirnseite seines Dienstzimmers stand. Mit etwas linkischen
Fingern intonierte er den Beginn von Wagners Tristan und Isolde. Der sagenumwobene
Tristan-Akkord löste sich jetzt in einen kitschigen Großen Septakkord auf. Das war
auch nicht die Lösung, die er anstrebte. Der Oberkriminalrat der Eutiner Zweigstelle
der Lübecker Kriminalbehörde seufzte unzufrieden.
    »Irgendwie muss es doch eine bessere
Lösung geben als die von Wagner. Man kann doch nicht eine vierstündige Oper abwarten,
bis sich dieser Klang auflöst. Und dann noch in ein banales H-Dur.«
    Dorndorfs Hobby
war die Musik. Als Kriminalist hegte er gewisse Vorurteile gegenüber der romantischen
Harmonik. Er liebte die logisch-klassische Strenge einer motivischen Entwicklung.
So, wie er sich bei der Verbrechensbekämpfung nur von den nachprüfbaren Tatsachen
leiten ließ. Ein Fall war für ihn so etwas wie eine Beethoven-Sinfonie: Vom Dunkeln
zum Licht, – allein durch strenge motivische Arbeit. So wie in dieser Musik kein
Ton zu viel oder an der falschen Stelle war, genauso ging Dorndorf bei seinen Ermittlungen
vor. Puzzleteil für Puzzleteil musste sich in der korrekten Weise aneinander reihen,
bis sich ihm die Logik der Tat erschloss. Sonst war er mit seiner Arbeit nicht zufrieden.
    Er notierte sich seine eben gefundene
Variante, über die er noch nicht ganz glücklich war, in sein Notenheft, das auf
dem Schreibtisch lag. Sie war der 312. Ansatz. Über zehn Jahre hatte er nun schon
gebraucht, um seine Korrektur der Wagnerschen Komposition zu vollenden. Über die
ersten fünf Takte war er nie hinausgekommen. Und dennoch hatte sich das Quartheft
schon zu Dreiviertel gefüllt.
    Als er die letzte Note eintrug,
brach zu allem Überfluss auch noch die Bleistiftspitze ab. Als würde sich sogar
sein Schreibwerkzeug weigern, diese Lösung anzuerkennen. Resigniert warf er den
Stummel in den Papierkorb. Das ließ tief in seinen Gemütszustand blicken, war er
doch in der Behörde als Sparsamkeitsapostel verschrien.
    Jemand klopfte vorsichtig an die
Tür, als hätte er Angst, den Meister in seinem kreativen Höhenflug zu stören. Die
Sekretärin steckte zaghaft den Kopf durch den Türspalt. »Der Herr Inspektor Kroll
von der Lübecker Zentrale möchte Sie sprechen.«
    Erschrocken klappte Dorndorf den
Klavierdeckel zu und verdeckte rasch das Notenheft mit einem Fax, das vor einer
Stunde eingetroffen war. Wie ein kleines Kind, das nicht beim Naschen ertappt werden
wollte.
    »Ist gut. Bitten Sie

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