Schattenmenagerie
nicht schätzte. So sieht keine Verbrecherin aus. Dass sie
nervös ist, kann ich leicht nachvollziehen. Und in ihren Augen liegt etwas Unberechenbares,
– fast wie bei einer Berlioz-Sinfonie, ging es dem Hobbykomponisten durch den Kopf.
Ich kann mir vorstellen, dass sie in bestimmten Situationen äußerst emotional und
unbeherrscht handeln kann. – Aber das wäre noch lange kein Grund, sie einer Gewalttat
zu verdächtigen.
»Am besten wird sein«, unterbrach
der Hausherr Dorndorfs Betrachtungen, »Sie vernehmen meine Tochter selbst.« Auf
dessen fragenden Blick hin fügte er hinzu: »Wir verständigen uns mit Hilfe der Gebärdensprache.
Ich kann Ihnen als Dolmetscher behilflich sein, – allerdings setzt das voraus, dass
Sie ihr die Handschellen abnehmen.«
Der Beamte
sah ein, dass in der gegebenen Situation eine Fesselung der jungen Frau völlig fehl
am Platze war, und löste die Fessel. »Gut. Fangen wir an. – Was suchten Sie um diese
ungewöhnliche Uhrzeit dort unten am Kolksee?«
Mit Hilfe der
Eltern lief die Übersetzung reibungslos. »Ich treibe mich gern in den Wäldern herum.
Ich liebe den Kolksee, weil er so naturwüchsig ist. – Vor ein paar Tagen entdeckte
ich, dass dort irgendjemand Fangeisen gelegt hatte. Ich wusste, dass das kein echter
Jäger machen würde, allenfalls ein Wilderer. Also behielt ich die Gegend im Auge,
vor allem während der Dunkelheit.
Gestern Abend
war ich dann nach den schlaflosen Nächten so kaputt, dass ich es nicht mehr außer
Haus schaffte. Ich legte mich hin, um für die heutige Nacht wieder fit zu sein.
Jetzt, wo ich gehört habe, dass da jemand ums Leben gekommen ist, mache ich mir
Vorwürfe, dass ich nicht besser aufgepasst hatte. – Ich hätte ja die Abtritteisen
entschärfen können, aber ich fürchtete, dass dadurch der Übeltäter gewarnt worden
wäre. Vorhin wollte ich wieder nachsehen und war sehr erstaunt, dass jemand anders
die Falle entschärft hatte. Ich beschloss, das Eisen fortzunehmen und meinem Vater
die ganze Geschichte zu erzählen. – Aber da waren Sie ja schneller. Zuerst dachte
ich, Sie wären der Fallensteller. Aber als ich spürte, dass Sie mir waschechte Handschellen
anlegten, war mir klar, dass Sie von der Polizei sind.« Etwas vorwurfsvoll schloss
sie mit den Worten: »Leider hatte ich ja keine Gelegenheit, mit Ihnen zu kommunizieren.«
»Sie kennen
sich mit Fangeisen aus, darf ich aus Ihren Erläuterungen schließen?«
»Ja, Vater hat ein paar alte, verrostete
Schwanenhälse hinten im Schuppen liegen. Ich habe sie öfter in der Hand gehabt.
Aber ich wusste auch, dass es heutzutage verboten ist, sie im Wald auszulegen. Mein
Vater hat mir die Gründe dafür erklärt und mir verboten, sie jemals anzurühren.«
»So so, hier lagern also Fangeisen
im Hause?« Dorndorf wandte sich an den Förster. »Würden Sie sie mir bitte mal zeigen?«
»Selbstverständlich, kommen Sie
mit. Eigentlich hatte ich ihre Existenz schon ganz vergessen. Ich werd sie demnächst
mal zur Alteisensammlung geben.« Er führte den Beamten zum Schuppen, in dem drei
Pferde standen. Dort stapelten sich in einer finsteren Ecke hinter den Stallungen
einige Eisenteile.
Der Hausherr sah auf Anhieb, dass
da jemand Fremdes herumgewühlt hatte. »Tatsächlich, es fehlen einige!« Er schaute
dem Polizisten besorgt in die Augen. »Hoffentlich treibt da nicht jemand noch mehr
Unfug. Die Dinger sind gefährlicher, als die Leute glauben.«
Als sie wieder
in die Wohnstube zurückgekehrt waren, deutete Dorndorf auf die Flinte, die an der
Wand hing. »Der Wilderer hatte auch so eine Flinte, Kaliber 12, allerdings mit abgesägtem
Lauf. Vielleicht kennen Sie ihn. Schmielke hieß er. Kein Unbekannter in unseren
Akten.«
»Ja, ich erinnere
mich dunkel an eine Geschichte vor ein paar Jahren. Da hatte der Herzog, – oder
war’s der Graf Stolberg? – noch Mitleid mit dem Vagabunden gezeigt. Aber dass der
eine Flinte besaß, ist mir neu. Eigentlich weiß ich ganz gut, wer in der Gegend
über derartige Waffen verfügt. –Kaliber 12 sagten Sie? Meines Wissens existieren
hier im Revierdistrikt nur zwei Waffen dieses Kalibers. Die, die Sie dort drüben
an der Wand sehen – die hat keinen abgesägten Lauf! – und die Flinte des Herzogs
von Altenburg senior. Der hat sie aber meines Wissens nie benutzt.«
Sowie dieser
Name fiel, klingelte es in Dorndorfs Kopf. Bislang war er wie selbstverständlich
von Wilderei und von einem Jagdunfall ausgegangen. Doch plötzlich erwachte
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