Schattenmenagerie
langen,
olivgrünen Lodenmantel gehüllt. Ein abgetragener Filzhut mit breiter Krempe verbarg
sein Gesicht. Das Gewehr hing griffbereit über der Schulter. Langsam tastete er
sich voran, immer wieder nach hinten schauend, um sich zu vergewissern, dass ihm
niemand folgte.
Er schien sich
hier gut auszukennen. Die letzte Eiszeit hatte das Gebiet rund um den Kolksee mit
seinen steilen Schluchten und unwegsamen Mooren geprägt. Ein schmaler Fußpfad führte
entlang des braunschwarzen Sees, auf dessen Oberfläche sich merkwürdigerweise nie
größere Wellen ausbildeten. Wer hier nicht genau Tritt hielt, konnte leicht im tiefen
Morast versinken.
Endlich öffnete
sich der Pfad zu einer trichterförmigen Lichtung, an deren Rand sich fast unsichtbar
das Gerüst eines Hochsitzes wie ein Skelett an eine mächtige Buche lehnte. Das war
das Ziel des nächtlichen Wanderers. Hier oben wollte er lauern, um den Damschaufler
mit einem treffsicheren Schuss zu erlegen.
Doch er kam
nicht soweit. An der engsten Stelle des Pfades, dort, wo ihn die hohen Farne von
beiden Seiten umfingen, trat er auf einen metallischen Gegenstand. Ehe er sich dessen
bewusst wurde, spürte er in seinem linken Unterschenkel einen rasenden Schmerz,
der ihm fast das Bewusstsein raubte. In panischem Schrecken brüllte er laut auf
und stürzte zu Boden. Das Gewehr fiel zur Seite in den Morast. Voller Todesangst
wühlte sich der Mann durch den Adlerfarn und tastete mit letzter Kraft nach seinem
Fuß. In der Finsternis spürte er, wie sich sein Blut mit dem Schlamm vermischte.
»Verdammt,
ein Schwanenhals! Welcher Idiot legt hier Fangeisen?« Der Schmerz durchfuhr seinen
ganzen Körper und lähmte seine weiteren Gedanken. Er schrie wie ein Tier. »Hilfe!
Hilfe!« Dabei hätte er wissen müssen, dass niemand in der Nähe sein würde, hatte
er doch in der Kneipe mit seinem großspurigen Gerede selbst dafür gesorgt. Und außerdem:
Wer wagt sich bei diesem Wetter schon freiwillig an den Kolksee!
Bald war er mit seinen Kräften am
Ende, krümmte sich vor Schmerz und sackte ohnmächtig zusammen. Wie ein Bündel Altkleidung
lag er in seinem verschmutzten langen Mantel und dem verbeulten Hut, der sein Gesicht
verdeckte, zwischen den Farnen, die sich schnell wieder aufgerichtet hatten. Die
Luftgeister verhüllten den Schauplatz mit ihren dunkel drohenden Wolken.
Doch der Verwundete
war nicht allein. Nach einer geraumen Zeit löste sich die Gestalt eines zweiten
Mannes aus dem Schutz der dichten Büsche zu Füßen des Hochsitzes. In den Händen
hielt sie eine abgesägte Flinte. Vorsichtig huschte sie zu dem Ohnmächtigen, der
in der Dunkelheit nur schwach zu erkennen war.
»Endlich hab
ich dich!«, murmelte der Mann finster vor sich hin und trat sein Opfer brutal mit
dem Stiefel in den Bauch. Dann richtete er seine Flinte auf dessen Brust und drückte
erbarmungslos ab. Schlagartig verstummte die Natursinfonie der Waldtiere. Als ahnten
sie, dass sich hier eine Tragödie abspielte.
Dann legte
er dem anderen die Tatwaffe in die Arme und führte dessen rechte Hand zum Abzug.
Zufrieden richtete er sich auf. Das Gewehr des Wilderers warf er im hohen Bogen
in den Kolksee. In dem moorigen Schlammwasser würde es niemand finden.
Jetzt sah alles nach einem Jagdunfall
aus.
*
Am frühen Morgen des nächsten Tages fand ein Spaziergänger die Leiche.
Sein Hund hatte sie erschnüffelt. Ohne etwas anzurühren, verständigte er über sein
Handy die Polizeistation in Eutin. Dorndorf und sein Team waren schnell zur Stelle.
Die erste grobe Untersuchung des Toten und der Fundstelle ließ für den Kriminalbeamten
keinen Zweifel aufkommen, dass es sich um einen tragischen Jagdunfall gehandelt
haben musste. Alle Spuren sprachen dafür. Der Mann musste versehentlich in ein Fangeisen
getreten sein und hatte beim Sturz einen Schuss aus seiner Flinte gelöst, mit tödlichem
Ausgang.
Dorndorf erkannte Schmielke sofort,
schließlich hatte er mit dem Wilderer schon einmal beruflich zu tun. »Typisch! Abgesägte
Flinte, Kaliber 12. – Und dann das Fangeisen: Ein als Abtrittseisen präpariertes
Abzugeisen mit extra breiter Trittfläche, von der Sorte, die heute wegen der Unfallgefahr
streng verboten ist, aber von den Wilderern gern für ihre dunklen Zwecke benutzt
werden. So brauchen sie nicht mit einem auffälligen Gewehr herumlaufen. Eine abgesägte
Flinte lässt sich leicht unter dem Mantel verbergen. Und da man damit nicht auf
größere Entfernungen tödlich treffen kann, legt man
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