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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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Verfolger-Scheinwerfers zum neuen
Steinway B-Flügel zu geleiten. Verhaltener Applaus erfüllte den Saal. Respekt, immerhin
ist sie ja nur eine Blinde, sinnierten viele Zuhörer.
    Vivianas Augen huschten vor Nervosität
hin und her. Sie fanden keinen Halt. Wie sollten sie auch? Und was sollten sie auch
sehen? Zu viel Eitelkeiten, Stolz, Angeberei, unbeholfen zur Schau gestellte Kunstbeflissenheit,
schamlose Neugier auf eine Blinde, die nicht einmal ihre Tasten erkennen konnte.
    Nun ja, man
war ja schließlich höflich, aufgeschlossen gegenüber Behinderten, und man erwartete
eine erlesene Varietédarbietung. Eine Blinde, gerade mal volljährig, wagte sich
an das nationale Heiligtum der Stadt, an Carl Maria von Weber heran. Und dazu noch
mit einer Weltpremiere, mit einer bislang für verschollenen gehaltenen Klaviersuite.
    Die junge Musikerin setzte sich
wie nebensächlich auf den Klavierhocker. Keine theatralische Geste, kein wichtigtuerisches
Herumfummeln an der Höheneinstellung. Ihre Hände lagen ruhig in ihrem Schoß, so
als würde sie still beten. Der Spot leuchtete ihr grell ins Gesicht. Nach einer
Minute der inneren Einkehr gab Viviana Noël ein unauffälliges Zeichen. Er kramte
eine Kerze aus der Tasche, stellte sie auf den Flügel, zündete sie an und gab dem
Beleuchter einen kurzen Wink, den Spot so weit wie möglich herunterzufahren. Dann
setzte er sich in die erste Reihe neben Micha.
    Das ungewöhnte Kerzenlicht veranlasste
das Publikum stillzuschweigen. Man reckte neugierig die Hälse. Aber die Pianistin
bewegte sich nicht. Sie horchte genau auf ihr Publikum und betätigte ihre Hände
erst, als sie sicher war, dass sich alle Aufmerksamkeit auf sie gerichtet hatte.
    Es schien einen Augenblick, als
hätte die Musik ein heimliches Präludium. Musik ohne Klang. Musik der Erwartung.
    Dann hob Viviana ihre Hände. Sie
hatte den neuen Flügel bewusst noch nie vorher ausprobiert. Sie wollte sich dem
Eindruck der ersten Berührung erst mit dem ersten Ton hingeben. Als erfahrene Pianistin
brauchte sie keine Orientierungsphase auf der Klaviatur. Zielsicher steuerte sie
die Tasten an.

Kapitel 16: Wolfsschluchtsuite
1. Satz: Das alte Schloss
     
    Wie aus dem Nichts tauchte im unisono ein schlichtes, aufsteigendes
Viernotenmotiv in C-Dur auf. Erst zaghaft, als schäme es sich, das Licht der Welt
zu erblicken, dann aber rollte es im trotzigen forte davon. Viviana erschreckte
sich leicht. Die Elfenbeinplatten der Tasten fühlten sich eiskalt, fast abweisend
an, als würden sie sich wehren, berührt zu werden. Im nächsten Moment jedoch durchströmte
sie eine beruhigende Wärme. Das Instrument war ausgezeichnet intoniert, und der
glasklare, obertonreiche Klang gefiel ihr sofort. Das war aber fast schon alles,
was Viviana in der Folgezeit bewusst durch den Kopf ging. Schnell vergaß sie ihre
Umgebung und lebte sich ohne weiter nachzudenken in ihre Klanggestaltung ein.
    Das Viernotenmotiv, das sekundenlang
den Saal füllte, erforderte eine Antwort. Sie bestand in einem piano abwärtsgeführten
halbverminderten Septakkord, der wie eine seufzende Bitte um Vergebung klang.
    Damit war der musikalische Dialog
eröffnet. Viviana gestaltete ihn jedoch nicht wie ein Streitgespräch zweier unterschiedlicher
Charaktere, so wie sie das von ›Samuel Goldenberg und Schmuyle‹ aus Mussorgskijs
›Bilder einer Ausstellung‹ kannte. Die Sensiblen unter den Zuhörern ahnten, dass
die Pianistin viel mehr die berühmten zwei Seelen in einer Brust besingen wollte.
– Doch wer war der Protagonist? – Das wusste allein nur die Künstlerin. Und natürlich
der geheimnisvolle Carl Maria, von dem sie den Rohentwurf der Klaviersuite erhalten
hatte.
    Der wunderbar lyrisch-dramatische
Anfang der Musik gewann rasch an epischer Breite. Vor Vivianas Augen – und die eben
zitierten Sensiblen folgten ihr willig – verwandelten sich die einzelnen Töne zu
Farbtupfern, als würden sie ein pointillistisches Gemälde von Georges Seurat zum
Leben erwecken. Die sorgsame Dosierung der Lautstärkegrade brachte Konturen ins
Spiel. Die sensible Agogik erzeugte unendlich abgestufte Helligkeitswerte. Motive
formten sich zu Umrissen, Melodien gestalteten sich zu Charakteren. Harmonische
Spannungen trieben die Gefühle und die Handlungen der Charaktere voran.
    Das gedimmte Licht des Spots versteckte
sich schamvoll angesichts dieser neuen Welt. Die Kerze flackerte vibrierend im Rhythmus
der Klänge. Ihre Flamme tanzte geschmeidig zur Musik. Viviana erlebte heute

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