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Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
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zum
zweiten Mal, dass ihre eigene Musik sie sehend machte. Erst ganz verschwommen, so
wie draußen der Nebel im Tal. Dann aber schweifte ihr frisch geborener Blick in
die Weite.
    Raum und Zeit gehorchten jetzt nur
noch der Logik ihrer Musik. Die Klänge füllten den Konzertsaal, bis sie so stark
wurden, dass sie die Wände des Jagdschlosses sprengten, mit der Natursinfonie der
Nebelwelt draußen verschmolzen und neue Wirklichkeiten schufen, Wirklichkeiten,
die weit über das Verstehensvermögen der meisten Zuhörer hinausging.
     
    Eine deftige phrygische Kadenz ließ vor Vivianas
Augen das mächtige Eutiner Schloss entstehen. Trutzig thronte der braunrote Backsteinpalast
über den grünen Flächen des Englischen Gartens. Der feuchtkalte Sommermorgen sorgte
dafür, dass die Blumen ihre Blüten verschlossen hielten und die Gräser lustlos zur
Seite hingen. Heute war Montag, der Tag, an denen keine öffentlichen Schlossführungen
stattfanden. Das nahezu menschenleere Gebäude schien in einen Dornröschenschlaf
verfallen zu sein. Auf dem Schlossvorhof, auf dem sonst lebhaftes Treiben herrschte,
stolzierten kopfnickend ein paar graue Tauben.
    Über den Innenhof
drangen leise Fetzen von melancholischen Orgelklängen. Viviana variierte über das
Thema der Arie ›Leise, leise, fromme Weise, schwing dich auf zum Sternenkreise!‹
aus dem Freischütz, das sie für die Orgel arrangiert hatte. Dunkle Klänge voller
Schwermut und banger Erwartung verloren sich in den hohen, kalten Schlossräumen.
    Während sie in
sich versunken oben auf der engen Orgelempore der Schlosskapelle saß, lümmelten
Noël und Antonio, ihre beiden besten Freunde, unten auf einer der Kirchenbänke und
ließen sich von der melancholischen Stimmung der Musik anstecken. Noël träumte von
einer einsamen Nacht mit Viviana, seinem Kumpel Antonio ging die kleine Micha nicht
mehr aus dem Kopf, Krolls Nichte, ›die aus Lübeck‹, wie sie von den anderen im 1.
FC Eutin genannt wurde. Er mochte sie, auch wenn – oder besser: weil – sie in seinen
Augen noch sehr jung war.
    Die Jugendlichen
liebten diesen Ort. Sie hatten bemerkt, dass der Schlossverwalter ihn offenbar –
aus welchen Gründen auch immer – mied. So hatten sie ihre Ruhe. – Glaubten sie.
    In ihre Gefühlswelt
versunken, bemerkte keiner aus der Gruppe das Paar, das die mit Fenstern zur Kirche
abgeschottete Loge, den sogenannten Fürstenstuhl, die sich gegenüber der Orgelempore
über dem Altarraum erhob, leisen Schrittes betrat. Es verharrte minutenlang hinter
einem dieser Fenster und lauschte aufmerksam den Orgelklängen. Verstohlen ergriff
Gräfin Barbara von Bülow die Hand des Jungherzogs Peter Anton, der die Berührung
nicht als unangenehm empfand.
    »Wunderbar!«,
flüsterte sie ihm zu. Sie meinte die Musik. Er aber missverstand das.
    »Ja, schon meine
Urahnen haben hier Hochzeit abgehalten, Taufen gefeiert und auch die letzte Weihung
empfangen. Ich liebe diesen Raum. Nicht nur wegen seiner wunderschönen Architektur
und der bemerkenswerten Orgel. Er ist für mich das Symbol unserer Dynastie.« Er
machte eine kleine Pause, schien intensiv nachzudenken, dann fuhr er fort: »Vielleicht
ist es doch besser, dem Ruf meiner Eltern zu folgen.«
    Die Gräfin
konnte mit dem merkwürdigen Satz nichts anfangen, aber sie fühlte, dass es nicht
der richtige Moment war, ihn daraufhin anzusprechen. Sie zog ihn an der Hand hinaus
auf den Flur. »Komm, zeig mir auch die anderen Räume, den Rittersaal, die Küche,
das Turmzimmer, die Schlafgemächer. Ich will alles sehen, alles von dir wissen …«
    Als erfahrene
Witwe wusste sie, wie man die wichtigen Dinge des Lebens anpacken musste. Im Geheimen
dachte sie: Ich will alles von dir!
    Und so zogen
sie turtelnd von Saal zu Saal. Im Schlafgemach erfüllte der Jungherzog ihr den größten
Wunsch. Sie wusste raffiniert alle Register der Liebeskunst zu ziehen, sodass Peter
Anton schnell seine Jugendliebe Caoba vergaß. Die Gräfin fand er überraschend attraktiv
und sinnlich, viel aufregender als das scheue, stumme Waldmädchen. Und überhaupt.
Schließlich musste man ja seine Blutsherkunft respektieren.
    Mutter hat doch
recht, ging es ihm durch den Sinn. Er beschloss, Caoba offen und ehrlich seinen
Sinneswandel bei passender Gelegenheit zu erläutern. Die Gräfin ahnte nichts von
seiner Gewissensentscheidung, zupfte ihre ramponierte Kleidung zurecht und beseitigte
diskret die Spuren der heißen Liebesumarmung auf dem historischen Himmelbett mit
dem kostbar

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