Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenmenagerie

Schattenmenagerie

Titel: Schattenmenagerie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Buehrig
Vom Netzwerk:
die
obere Lade und rüttelte an der nächsten. Sie gab nur widerwillig nach. Hier lagerten
stapelweise alte, vergilbte Akten. Auf einem dieser Haufen ruhte ein handschriftliches
Manuskript, das ähnlich frische Gebrauchsspuren aufwies wie die Noten.
    »Aha!«, entfuhr
es ihm. Die beiden anderen beugten sich neugierig über seine Schulter. »Das ist
schon wesentlich interessanter.« Er kramte seine Plastikhandschuhe hervor und zog
sie sich etwas wichtigtuerisch über. Schließlich war er ja der Meisterdetektiv.
Dann holte er das Manuskript vorsichtig ans dämmerige Tageslicht: »Die letzten Tage
des Zar Peter III., protokolliert von seinem ergebenen Adjutanten Gudowitsch von
Oranienbaum.«
    »Peter? – Ist
das nicht der Prinz aus Eutin, der sich hier im Schlossgarten in die spätere Katharina
die Große verliebt hatte?«, fiel Viviana ein. »Micha hatte mir neulich so eine Geschichte
erzählt. Sie wusste das von ihrem Onkel. Hohe Politik, meinte sie, Liebesgeschichte
mit tragischem Ausgang. Wenn ich mich recht entsinne, soll sie ihren Gatten kurzerhand
gefangengesetzt und dafür gesorgt haben, dass er ermordet wurde.«
    »Stimmt«, unterbrach
sie Antonio. »Mir erzählte sie das auch.« Er errötete leicht, weil er plötzlich
merkte, dass er damit den anderen gegenüber indirekt verraten hatte, dass er sich
heimlich mit der Nichte des Inspektors traf. Nun ist’s raus, dachte er. Aber jetzt
gibt’s Wichtigeres. Und er ergänzte: »Außerdem wusste sie noch, dass dieser Peter
bei seiner Festnahme mit einer Mätresse zusammen war, die angeblich schwanger von
ihm war.«
    »Ach, was interessieren
uns die Liebesabenteuer längst verblichener Herrschaften!«, warf Noël ungeduldig
ein. »Aber wichtig wird die Schrift doch gewesen sein, denn sonst hätte sie nicht
jemand vor Kurzem in die Hand genommen. Das könnte uns auf die Spur zu Stolbergs
Mörder führen. – Wir sollten sie mitnehmen und dem Inspektor vorlegen. Vielleicht
kann der ja damit etwas anfangen. Bestimmt sind auch Fingerabdrücke dran.«
    Antonio widersprach:
»Nein, ich glaube, es ist besser, wir lassen alles an Ort und Stelle und informieren
ihn. Mit seinen Leuten von der Spurensicherung kann er bestimmt mehr herausfinden
als wir.« Dann ergriff er das nächste Heft von dem Stapel: ›Die zeitgenössische
Aufzeichnung eines georgischen Erzpriesters über die Thronbesteigung der Kaiserin
Katharina II. – in deutscher Übersetzung‹.
    Auch hier waren
Spuren jüngerer Benutzung zu erkennen.
    »Der Titel klingt
so, als könnten wir mehr über dieses komische Liebespaar erfahren«, meinte Viviana.
Sie schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, als sie in der Schrift blätterte: »Einen Menschen
verhaften und hinrichten, dessen Geliebte ein Kind erwartete! – Zustände müssen
das am russischen Hof gewesen sein.«
    Die Eindringlinge
hörten, wie unten ein Auto vorfuhr. Der Hund schlug an. »Verdammt! Das könnte wieder
der Jungherzog sein«, fluchte Antonio. »Wir sollten besser den Rückzug antreten.
– Aber über die Wendeltreppe im Torhaus geht das nicht, da würde man uns bemerken.«
Er legte die Broschüre zurück, schloss die Kommode, packte rasch seine Sachen zusammen
und überlegte. »Wenn mich nicht alles täuscht, müsste es auch durch das Dachgestühl
einen Weg rüber zur Südostecke geben, wo sich die Kapelle befindet. – Ich bin mir
nicht sicher, aber wir sollten es ausprobieren. Ist unsere einzige Chance, zur Orgel
zurückzukehren und so zu tun, als hätten wir die ganze Zeit Viviana beim Orgelspiel
zugehört.«
    Die drei machten
sich vorsichtig unter Antonios Führung auf den Weg. Der Junge bewies einen guten
Orientierungssinn. Ein schmaler Steg führte zum Rundturm, den man durch die Dachgauben
gut erkennen konnte. Dann entdeckten sie eine provisorische Brettertür, die den
Durchgang zu einem niedrigen, langen Korridor freigab. Ein Blick nach außen auf
den ruhig vor sich hinträumenden Park überzeugte sie schnell, dass sie direkt über
der Schlosskapelle angekommen sein mussten.
    Doch der Gang
schien sich als Sackgasse zu entpuppen.
    »Verflixt! Ende
der Fahnenstange«, fluchte Noël. »Hier kommen wir nicht weiter. Wir müssen wieder
zurück.« Sie suchten jede Ecke, jede Wand nach einer Tür ab.
    »Moment mal«,
rief Viviana, die zufällig gegen eine unscheinbare Trennwand zwischen zwei Schornsteinschächten
geklopft hatte. »Hier ist eine Lücke!« Antonio eilte herbei und fummelte ein wenig
an den Holzbrettern der Wand herum. Plötzlich

Weitere Kostenlose Bücher