Schattenmenagerie
öffnete sich der Spalt und enthüllte
einen windschiefen Treppenschacht nach unten. Er muss irgendwann einmal während
einer der vielen Umbauphasen des Schlosses zwischen den beiden Schornsteinmauern
angelegt worden sein. Antonio kannte ihn nicht. Er war in keiner der ihm bekannten
Bauskizzen eingetragen.
Was blieb ihnen
anderes übrig, als diesen Weg nach unten zu verfolgen. Irgendwo musste er ja enden.
Und siehe da, der Treppenschacht erwies sich als ausgeklügelter Geheimgang zwischen
den Stockwerken. In jeder Etage entdeckten die drei eine sorgfältig verborgene Verbindungstür.
»Wieder so eine
›escalier dérobé‹«, merkte Antonio an. »Aber offenbar ist sie lange nicht mehr benutzt
worden. Überall Staub und Mörtel. Keine Fußspuren, keine Hinterlassenschaften irgendwelcher
Besucher. Nicht einmal Vogeldreck!«
Hier war der
hässliche Orgelton, den die drei Schatzsucher schon die ganze Zeit über verschwommen
wahrnahmen, ganz deutlich zu hören. Das Alibi ihrer Anwesenheit in der Schlosskapelle.
»Wir sind auf
dem richtigen Weg«, flüsterte Viviana aufgeregt. »Ich höre am Klang, dass wir uns
der Orgel nähern.«
Die Treppe führte
zwar noch weiter nach unten, aber bei einem bestimmten Treppenabsatz blieb Antonio
stehen. »So, ich habe die Stufen mitgezählt. Wenn meine Berechnungen stimmen, müssten
wir jetzt in Höhe der Orgelempore sein. Der Rest des Geheimgangs führt dann sicherlich
in den Keller. – Wir haben jetzt keine Zeit, das näher zu untersuchen. Ein andermal.
Jetzt sollten wir so schnell wie möglich einen Zugang zur Kapelle finden.« Jetzt
klang der schrille Ton der Orgelpfeifen sehr laut.
Und wieder war
es Viviana, die die richtige Tür entdeckte. Vielleicht trieb sie ihr Instinkt als
Musikerin, zurück zum ›Stall‹ zu finden. Vorsichtig und langsam öffnete sie die
schmale Pforte einen Spalt weit. Man konnte ja nie wissen, wer und was sich dahinter
verbergen würde.
Sie stieß einen
verhaltenen Überraschungsschrei aus: »Wow! – Das ist ja die Innenseite des Orgelprospekts.
Der winzige Raum, der dazu dient, die Orgelmechanik zu warten. Natürlich kann man
ihn auch von der Empore aus betreten.«
Und richtig.
Sie kamen an der Innenseite des Orgelkastens heraus, von wo ein schmaler Durchlass
zur Empore führte. Sofort setzte sich Viviana an die Orgel, befreite die Basspedale
vom Kerzenständer und setzte ihr Konzert fort, als sei nichts gewesen. Die beiden
Jungen lehnten sich, unschuldige Lässigkeit mimend, über die Emporenbrüstung.
Kaum hatte die
Musikerin ihre verträumte Variation über das Weber-Thema wieder aufgegriffen, öffnete
sich unten die breite Tür zur Schlosskapelle. Der Herzog trat ein. Er, nicht sein
Sohn war es, der vorhin mit dem Auto vorgefahren war. Er wollte die Jugendlichen
ermahnen, die gewährte Übungszeit nicht unangemessen zu überschreiten, und er wollte
seine Schlüssel zurückfordern.
Doch als er die
melancholische, betörende Musik hörte, zögerte er. Leise, als wäre er mitten in
ein fürstliches Konzert hineingeplatzt, setzte er sich auf eine der Kirchenbänke
und lauschte aufmerksam der Musik. Derartig sensible Klänge hatte er lange nicht
mehr gehört. Er lehnte sich entspannt zurück und genoss das immer leiser werdende
Orgelspiel bis zum letzten Ton.
*
Der Schlussakkord, eine kantige, düsterer wirkende leere Quinte über
dem tiefen H klang lange aus. Im Notentext war ein Zeichen eingetragen mit der Bemerkung
›Pedal halten so lange wie möglich‹. Die Pianistin nahm die Anweisung ernst und
ließ sogar ihre Hand auf den Tasten liegen, obwohl das für den Klang nicht mehr
wichtig war. Die Hämmer waren ohnehin längst in die Fänger zurückgefallen, sodass
die Saiten aufgrund der Pedalstellung weiterhin frei schwingen konnten.
Völlig bewegungslos verharrte Viviana,
stark nach vorne zusammengekrümmt auf der Kante des Klavierhockers sitzend. Sie
sann mit geschlossenen Augenlidern dem Klang nach und nahm nichts von ihrer Umgebung
wahr. Hatte sie vergessen, dass sie der Mittelpunkt des heutigen Konzerts im Jagdschloss
Uklei war?
Plötzlich schepperten dünne, hilflose
Beifallklatscher. Die Jugendlichen vom 1. FC Eutin wollten der, wie sie meinten,
gebührenden Anerkennung für ihre Heldin lautstark Ausdruck verleihen. Doch leider
wussten sie es nicht, – nein, hatten sie es noch nicht gelernt, dass man zwischen
den Sätzen eines Musikwerkes nicht klatscht. Kroll hätte sich dem Klatschen beinahe
angeschlossen, als er es
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