Schattenmenagerie
erinnerte.
Nirgends gab
es an diesem sehr frühen Sommermorgen Anzeichen von menschlichem Treiben.
Direkt dem Tempel
gegenüber lag die Fasaneninsel, deren Umrisse sich nur zaghaft über den Wassern
behauptete. Plötzlich bemerkten die beiden das Geräusch von behutsamen Ruderschlägen.
Jemand machte sich mit einem Beiboot vorsichtig auf den Weg zu dem kleinen Anleger,
dessen Pfad hoch in die Stadt führte.
Gespannt verfolgten
die beiden, wie sich der Kahn langsam dem Ufer näherte. Dann sprang die Gestalt
auf den Steg, vertäute das Boot und eilte stadtwärts. »Romanowsky!«, flüsterte Noël.
Er drückte ganz zart Vivianas Hand, als hätte er Angst, die empfindliche Künstlerhand
zu verletzen. »Der führt doch sicherlich nichts Gutes im Schilde, so früh am Morgen.«
Er sinnierte
eine Weile vor sich hin, dann kam ihm eine Idee. »Weißt du was? Das wäre doch der
ideale Augenblick, um sich auf der Insel ein wenig umzuschauen.« Seine Freundin
starrte ihn verwundert an. »Ja«, beharrte er. »Ich werd das Gefühl nicht los, dass
dieser Romanowsky irgendetwas auf dem Kerbholz hat. – Ich werde hinüberschwimmen.«
Er zog sich bis auf die Unterkleidung aus. »Warte hier, bis ich wieder zurück bin.
Ich nehme mein Handy mit. Wenn ich es fest in mein Hemd einwickle und über Wasser
halte, wird es funktionstüchtig bleiben. Dann können wir miteinander in Kontakt
bleiben.«
Ohne auf ihren
Protest zu achten, drückte er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Oberlippe und sprang
ins kalte Nass. Obwohl er ein geübter Schwimmer war, strengte ihn die nicht unbeachtliche
Strecke an, weil er nur mit einem Arm ausholen konnte. Mit dem anderen hielt er
das Hemd samt Handy über dem Kopf. Erschöpft ließ er sich auf der Insel ans Ufer
fallen. Nun spürte er die Kälte doppelt. Er trocknete sich so gut es ging am Gras
ab und streifte sich sein Hemd über. Wenigstens gewährte es ihm ein wenig Windschutz.
Sein Handy steckte
er in eine Hemdtasche. Das Display leuchtete wie gewohnt, also schien alles noch
zu funktionieren.
Das einzige feste
Haus auf der Insel bestand aus einer reetgedeckten, modern ausgebauten und liebevoll
gepflegten Bauernkate, geräumig genug, um einem Einsiedler jeden erdenklichen Luxus
zu gestatten.
Noël fand alle
Türen und Fenster verschlossen. Neugierig und vorsichtig lugte er durch die Butzenscheiben.
Kein Laut, kein Licht, keine Bewegung. Nur matte Dämmerung. Offensichtlich war niemand
anwesend. Und mit der Rückkehr des Hausherrn war nicht vor mindestens einer Stunde
zu rechnen.
So dachte er.
Als er nun sicher
war, nicht überrascht zu werden, machte er einen kurzen Rundgang über die Insel.
Außer einem Geräteschuppen und einem Bootshäuschen konnte er nicht viel aufspüren.
Keine Anzeichen von Landwirtschaft, und von ertragreichem Fischfang zeugten die
Anlagen nicht unbedingt. Das hatte Noël nicht erwartet, wusste er doch, dass Romanowsky
Pächter der Fischereirechte war.
An der Rückseite
der Kate befand sich ein angebauter, offener Schuppen, unter dessen Dach sich ein
Grundwasserbrunnen verbarg. Direkt neben diesem entdeckte Noël ein auf Klapp offenes
Kellerfenster. Für den geschmeidigen jungen Mann war es ein Leichtes, hinter die
Scharniere zu fassen, die Luke vollends zu öffnen und sich durch die schmale Öffnung
zu zwängen.
Er stand in einem
muffigfeuchten Keller, der einigen Unrat und einen Stapel Umzugskartons barg. Sie
trugen Schriftzeichen, die Noël nicht entziffern konnte. In einer Ecke döste ein
Werkzeugkasten vor sich hin. Der Junge öffnete ihn und stöberte so lange, bis er
etwas Geeignetes gefunden hatte, etwas, das ihm als Dietrich dienen konnte, einen
Fischerhaken.
Eine eichene
Brettertür führte aufwärts in den Wohnbereich. Überrumpelt von der Eleganz des Raumes
schämte sich Noël, ihn barfuß und nur mit einem Hemd bekleidet zu betreten. Das
Innere stand in seltsamem Widerspruch zu dem bäuerlichen Charakter der Reetdachkate.
Kostbare Perserteppiche bedeckten die Bodendielen. Gemälde hingen an der Wand, wie
er sie eigentlich nur aus dem Schloss kannte. Eine ganze Ahnengalerie. Mit den Namen,
die auf den kleinen Messingschildern angebracht waren, konnte er nichts anfangen.
Lauter merkwürdig klingende Vornamen.
Von der Decke
hing zentral ein schwerer Kerzenleuchter herab. Seine weit ausladenden Messingarme
thronten wie ein Damoklesschwert über einem runden Esstisch. Er war fürstlich gedeckt
für acht Personen. Das erlesene Geschirr, das Silberbesteck und
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